Kirchenaustritte im Landkreis Dachau:"Es ist eine Art Auseinanderleben"

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Unzufriedenheit, Geldmangel, verkrustete Strukturen: Immer mehr Gläubige kehren der Kirche den Rücken. Vertreter der beiden großen Konfessionen sind sich einig, dass es keine Patentrezepte gegen die Austritte gibt

Von Franziska Stolz, Dachau

Sonntags läuten die Glocken. Dem Ruf zum Gottesdienst folgen aber immer weniger Menschen. Der christliche Glaube scheint lange nicht mehr für alle ein so zentraler Lebensbestandteil wie früher zu sein. Die Zahl der Austritte aus den zwei großen Kirchen steigt. In Bayern verließen im Jahr 2018 64 246 Menschen die katholische Kirche, 27 673 die evangelische Kirche. In beiden Fällen sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Die Kirchen stehen vor einem Problem, für das es keine Patentlösung gibt.

In Dachau und im Umland wandern Gläubige beider Konfessionen ab. Die evangelischen Gemeinden des Landkreises Dachau gehören zum größten Teil dem Evangelisch-Lutherischen Dekanat München an, das 5685 Austritte im Jahr 2018 zu verzeichnen hatte. Das sind 10,11 Prozent mehr als im Jahr 2017, in dessen Verlauf 5163 Protestanten aus dem Münchner Raum die evangelische Kirche verließen. "Die Kirchenaustritte stehen am Ende einer relativ langen Entwicklung, während der man die Kirche immer weniger besucht", sagt Johannes Minkus, Sprecher der Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern. "Es ist eine Art Auseinanderleben."

Bei der katholischen Kirche lässt sich ebenfalls eine steigende Zahl von Kirchenaustritten beobachten. Das Erzbistum München Freising, in dessen Jurisdiktionsbereich der Landkreis Dachau fällt, verzeichnete 22 580 Austritte im Jahr 2018, 25 Prozent mehr als noch 2017 (17 998 Austritte). Davon kehrten 883 Menschen im Landkreis Dachau der katholischen Kirche den Rücken. Die Zahl stieg damit im Vergleich zum Vorjahr (752 Austritte) um 17,43 Prozent. In Einzelfällen handle es sich um Austritte aus Verärgerung, andere würden die katholische Kirche aus inhaltlichen und strukturellen Gründen verlassen, so Christina Tangerding von der Pressestelle der Erzdiözese München Freising.

"Ein großer Teil tritt aber auch aus, um keine Kirchensteuer mehr zahlen zu müssen. Gerade im Großraum München müssen viele darauf achten, dass das Geld reicht," sagt Tangerding. Immer mehr Gemeindemitglieder würden diesen Beweggrund nennen, bestätigt Pfarrer Bernhard Rümmler, der die katholischen Kirchengemeinden Sankt Anna und Sankt Josef in Karlsfeld betreut. "Mein bester Freund ist vor Jahren aus der Kirche ausgetreten. Er ist verheiratet und Vater, mit seinen Kindern geht er auch heute noch in die Kirche. Er wollte nur die Kirchensteuer nicht mehr zahlen." Man müsse das ernst nehmen, sagt Tangerding von der Erzdiözese. Es sei wichtig zu erklären, wofür das Geld aus der Kirchensteuer verwendet wird, dass es auch in wohltätige Projekte fließt. Im Finanzbericht sei online alles einzusehen.

Auch Christiane Döring, Pfarrerin der evanglisch-lutherischen Gnadenkirche in Dachau, beobachtet, dass sich das Verhältnis vieler Gläubiger zur Kirche ändert: "Ich bin jetzt zehn Jahre an der Gnadenkirche und merke schon, dass der Besuch des Gottesdienstes am Sonntag weniger wird. Ich glaube, Freizeit ist ein sehr kostbares Gut für alle Menschen geworden." In Dörings Gemeinde scheinen sich neue Konzepte zu bewähren. Für diejenigen, die Glauben lieber in einem anderen Rahmen erleben und teilen, werden zum Beispiel Gottesdienste mit Abendessen im Gemeindehaus oder Waldgottesdienste für Kinder angeboten. "Die Selbstverständlichkeit, zum Sonntagsgottesdienst zu gehen, wird weniger. Die gibt es vor allem noch bei älteren Menschen."

Besonders jüngere Menschen verlassen die Kirche. Laut der Studie "Kirchenmitglied bleiben?" des Heidelberger Sinus-Instituts und der MDG-Unternehmensberatung der katholischen Kirche neigen die Befragten der Altersgruppen von 18 bis 29 Jahren und 30 bis 49 Jahre stärker zu einem Austritt als ältere Studienteilnehmer. Ist Kirche einfach nicht mehr zeitgemäß? Gerade der katholischen Kirche, die im Zeitalter der Geschlechtergleichberechtigung Frauen das Priesteramt verwehrt und auf den Zölibat pocht, könnte man diese Frage stellen.

Pfarrer Rümmler bezweifelt, dass mehr Liberalismus hinsichtlich der Geschlechterfrage und des Zölibats die hohen Austrittszahlen eindämmen könnte. "Ich glaube nicht, dass es viel hilft, Strukturen zu ändern. Auch die evangelische Kirche, in der Frauen im Priesteramt sind und Pfarrer heiraten dürfen, hat mit Austritten zu kämpfen," sagt Rümmler.

Christian Weisner sieht das anders. Er ist Sprecher der Bewegung "Wir sind Kirche", die unter anderem volle Gleichberechtigung von Frauen, freie Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform sowie eine positive Bewertung menschlicher Sexualität in der katholischen Kirche fordert. "Wir brauchen in der katholischen Kirche wieder die Freiheit zu denken und zu reden, so wie es Papst Franziskus vormacht, nicht nur Verbote. Kirche muss Mut machen." Gerade Menschen, die eigentlich noch Erwartungen an die Kirche hätten, würden austreten, weil sich nichts verändert. Nicht nur wegen des herrschenden Priestermangels seien aber zumindest Frauen im Priesteramt eine Frage der Zeit, so Weisner. "Wir haben in Dachau ja jetzt schon viele starke Frauen, die gute und wichtige Arbeit in der Kirche leisten."

Eine Abkehr von der Kirche könnte oftmals mit den Mobilitätsanforderungen zusammenhängen, die heute an junge Menschen gestellt werden, und mit der daraus resultierenden Entwurzelung. "Es ist dann nicht mehr die Kirche der Kindheit, die man besucht, sondern eine neue Gemeinde mit fremden Leuten," sagt Pfarrerin Christiane Döring. Laut Sprecher Johannes Minkus von der evangelischen Landeskirche sei der Punkt, an dem der Kontakt zur Gemeinde verloren gehe, häufig der Umzug in eine andere Stadt fürs Studium oder die Arbeit.

"Patentrezepte gegen die Austritte gibt es nicht," sagt Pfarrerin Christiane Döring. Dass das Problem der steigenden Kirchenaustritte zu vielschichtig für simple Lösungsansätze ist, dessen ist man sich in der evangelisch-lutherischen und in der katholischen Kirche bewusst. "Wir können die frohe Botschaft verkünden, aber wir können niemanden zwingen, zu uns zu kommen", so Pfarrer Bernhard Rümmler.

© SZ vom 03.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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