Reaktionen auf Missbrauchsgutachten:"Ich finde es fürchterlich, was in dieser Kirche passiert ist"

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Der Indersdorfer Pfarrer Stefan Hauptmann zündet in der Klosterkirche Kerzen an als "Zeichen der Hoffnung", wie er sagt. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Seit der Veröffentlichung des Münchner Missbrauchsgutachten steigt die Zahl der Kirchenaustritte. Andere wollen bleiben. Wie reagieren Pfarrer, Gläubige und Reformerinnen im Landkreis auf die Missbrauchsfälle?

Von Miriam Dahlinger, Dachau

Fragt man Pfarrer Stefan Hauptmann aus Markt Indersdorf nach seiner Reaktion auf das Münchner Missbrauchsgutachten, bemüht der 58-Jährige ein Wort, das in der Pandemie zur Gefühlsbeschreibung vieler Menschen wurde: mütend. "Ich empfinde zum einen eine gewisse Erschöpfung, weil ich nicht weiß, wie ich mich richtig verhalten soll, und zum anderen Wut: Wut, dass so etwas möglich war. Wut, dass Mitbrüder zu etwas so Boshaftem und Monströsem fähig sind. Und Wut, dass das volle Ausmaß erst jetzt ans Licht kommt."

Gut eine Woche ist es her, dass ein neues Missbrauchsgutachten die katholische Kirche in Bayern erschüttert hat. Dokumentiert sind darin fast 500 Opfer sexualisierter Gewalt in der Erzdiözese München und Freising sowie 235 Täter und viele Verantwortliche, die wegschauten. Unter ihnen der ehemalige Papst Benedikt XVI. Fragt man Geistliche und Gläubige im Landkreis Dachau nach ihren Reaktionen auf das Gutachten, machen die einen ihrer Wut Luft, bei den anderen herrscht Verunsicherung und Sprachlosigkeit. Manchen fällt es sichtlich schwer, Worte für die tiefe Enttäuschung mit einer Kirche zu finden, die sie von ihrem Glauben entfremdet, andere möchten lieber gar nichts sagen.

"Was jetzt erschreckend deutlich wird, ist, dass sich die Kirchenleitung jahrelang Augen und Ohren zugehalten hat", sagt Christian Weisner. Seit der Vorstellung des Missbrauchsgutachten am 20. Januar klingelt bei dem 70-jährigen Dachauer pausenlos das Telefon. Weisner ist Vorstand der bundesweiten Reformbewegung "Wir sind Kirche", die sich seit den 90er Jahren unter anderem gegen die Vertuschung von Missbrauchsfällen einsetzt. Seine Frau habe den langjährigen Missbrauchstäter Pfarrer H. in der Jugendseelsorge erlebt. "Diese Leute wurden einfach immer weiter versetzt", sagt er. "Jede dieser Versetzung hat neues Leid erzeugt."

"Zweifel an der Institution, nicht an Christus"

Der Karlsfelder Pfarrer Bernhard Rümmler verpackt seine Stimmungslage in theologische Worte und unterscheidet zwischen der "Institution Kirche" und "dem lebendigen Leib Jesu". Die Kirche sei als Institution wie ein Skelett, ohne den der Körper wie ein Brei auf dem Boden liege. Retten könne aber nur der lebendige Leib Jesu. "Nach dem Gutachten zweifle ich zwar an der Institution, nicht aber an Christus", sagt Rümmler. Auch der Hebertshausener Pfarrer Michael Bartmann, 66, zeigt sich erschüttert über das Gutachten, doch das Wichtigste sei nun, "dass wir als Kirche weiter zusammen unterwegs sind und miteinander und vor allem mit den Opfern im Gespräch bleiben".

Klarere Worte hörte man in der vergangenen Woche aus den Landkreisen Starnberg und Ebersberg. So antwortete Stadtpfarrer Andreas Jall aus Starnberg der SZ auf die Frage, wie es ihm nach dem Urteil persönlich gehe, recht unverblümt: "Zum Kotzen. Genau so geht es mir." Und Pfarrer Schlicker aus Ebersberg resümierte nach den Aussagen des ehemaligen Papstes: "Den pathetischen Rotz hätt' er sich sparen können". Ein Zorn, der auch das Stimmungsbild von immer mehr der rund 70 000 Katholikinnen und Katholiken im Landkreis Dachau widerzuspiegeln scheint. Allein vergangene Woche seien in Dachau circa 80 Anfragen für Kirchenaustritte eingegangen, teilt Hauptsamtleiter Josef Hermann mit. Damit seien im Januar bisher 51 Personen aus der katholischen Kirche ausgetreten, weitere 83 Termine für Februar und März seien vergeben worden. Mitunter fänden sich darunter Paare und ganze Familien, so Hermann. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch in Karlsfeld, wo vergangene Woche knapp 25 Anfragen zum selben Thema verzeichnet wurden. Insgesamt seien im Januar bereits fast dreimal so viel Anfragen eingegangen wie noch im vergangenem Jahr. Die Indersdorfer Standesbeamtin Nadine Ostermeier zählte im Januar 2022 etwa 90 Kirchenaustritte in Indersdorf, Röhrmoos, Petershausen, Vierkirchen und Weichs. 2021 seien es noch 20 gewesen.

Die Katholikin Irmi Spicker will ihrer Kirche weiterhin treu bleiben trotz der neuerlichen Veröffentlichungen zum Missbrauch. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Und tatsächlich stellt sich nach den neuesten Veröffentlichungen die Frage: Warum Mitglied in einer Institution bleiben, die den Missbrauch an Schutzbedürftigen jahrelang unter den Teppich gekehrt hat? Darauf geben die Gläubigen im Landkreis Dachau unterschiedliche Antworten. "Ich finde es fürchterlich, was in dieser Kirche passiert ist und was über diese vielen Jahre vertuscht worden ist", sagt Irmi Spicker, 61, vom katholischen Frauenbund in Indersdorf. "Aber ich bleibe dieser Kirche treu. Für mich ist sie einfach alles und gehört zu mir," erklärt sie mit Nachdruck in der Stimme. Ihr Glaube zur Kirche und zu ihrem Herrgott habe Spicker in ihrem Leben noch nie enttäuscht, auch nicht in den schwierigen Tagen, als sie sich um ihre schwerkranke Tochter sorgen musste. "Ich hatte immer die Gewissheit, dass es gut wird", sagt sie. "Und es ist gut geworden."

In der Antwort von Jana Wulf, 27, schwingt ein gewisser Wille zum Umsturz mit. Sie glaube fest daran, dass sich die Kirche verändern könne, sagt sie. "Und ich will Teil dieser Veränderung sein," schiebt Wulf hinterher, die als BDKJ-Diozösanvorsitzende auch für die Katholische Jugend in Dachau zuständig ist. "Dafür kämpfe ich", sagt sie. Einen Kampf, den Christian Weisner nun bereits seit 27 Jahren führt. Trotzdem bleibt er dabei: "Alle, die bisher ausgeharrt haben und Johannes Paul II und Benedikt XVI ausgehalten haben, sollten gerade jetzt nicht austreten." Weisner glaubt fest daran, dass sich die katholische Kirche von unten reformieren lässt. Das Christentum sei eine zupackende Religion, in der die visionäre Kraft der Hoffnung stecke. "In den Kirchengemeinde sind so viele engagierte Leute", sagt er. "Wenn das alles zusammenbricht, wäre das unendlich schade." Und es gebe ja bereits Fortschritte, wie im vergangenen Jahr beispielsweise die vereinzelten Segnungsfeiern für queere Menschen gezeigt hätten. "Wir dürfen jetzt nicht aufgeben."

Langsam im Aufarbeiten, schnell im Vergessen

Im Zuge des ersten Münchner Missbrauchsgutachten aus dem Jahr 2010 kamen auch im Landkreis Dachau Missbrauchsfälle ans Licht. So berichtete die SZ Dachau im April 2010, dass in der Hebertshausener Pfarrei "Zum Allerheiligsten Welterlöser" drei Pfarrer sexualisierte Gewalt an Kindern ausübten. Damals wurde berichtet, dass sich Pfarrer Erich W. im Jahr 1976 mindestens dreimal an einem damals neunjährigen Buben vergangen haben soll. Damals sagte das mutmaßliche Opfer von Pfarrer W.: "Wenn ich eine Tafel an einen Laternenmast in Hebertshausen hängen würde, 'Ich wurde missbraucht- wer noch?', würden sich sicher 20 bis 30 finden, die sagen: Ich auch." Ein dunkles Kapitel, an das sich in der Gemeinde Hebertshausen inzwischen aber niemand mehr zu erinnern scheint. Bis heute habe er keine Kenntnis von Missbrauchsfällen in seiner Pfarrgemeinde gehabt, sagt Pfarrer Michael Bartmann, der seit einigen Jahren Seelsorger in der Gemeinde Hebertshausen ist, am Freitag. In Hebertshausen zeigt sich exemplarisch ein Muster, dass Kirchenbeobachter bereits kennen: Kaum wird ein Fall einige Jahre nicht mehr öffentlich thematisiert, ist er schon wieder vergessen. Auf Anfrage äußert sich die Pressestelle der Erzdiözese München Freising, dass sie Kenntnis "von einzelnen Verdachtsfällen von sexuellem Missbrauch und von Grenzüberschreitungen" im Landkreis Dachau habe. Eine Übersicht, wie viele Fälle der vergangenen 50 Jahren den Landkreis Dachau beträfen, und wie viele Täter und Betroffene es gewesen seien, gebe es aber nicht.

Für Christian Weisner spielt die katholische Kirche eine wichtige Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber sie muss sich auch verändern. (Foto: Niels P. Jørgensen)

In den vergangenen Jahren habe die Erzdiözese in der Präventionsarbeit einiges getan, berichten die Geistlichen im Landkreis Dachau. So müsse beispielsweise in Indersdorf jeder, der in der Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt werde, ein erweitertes Führungszeugnis abgeben, einschließlich der Seelsorger und Hauptamtlichen. Zudem gebe es Präventionsschulungen. Und was muss neben Missbrauchsprävention noch passieren? "Kardinal Marx spricht davon, dass er Verantwortung übernimmt", sagt Weisner mit Blick nach München. "Aber das ist eine Verantwortung für die Vergangenheit. Wir brauchen jetzt dringend auch Verantwortung für die Zukunft." Vorschläge, was man im Bistum konkret ändern könnte, hat Weisner auch. Mit Blick auf den Priestermangel könne man Pastoralreferenten die dauerhafte Erlaubnis zum Predigen erteilen und ihnen erlauben, zu taufen, bei der Eheschließungen zu assistieren und Begräbnisfeiern durchzuführen. Jana Wulf von der BDKJ sieht im Gutachten eine Aufforderung zur Veränderung: "Mein Ziel ist, dass in der Kirche jeder Mensch er selbst sein kann."

Und wer der katholischen Kirche trotzdem den Rücken zukehrt? "Im Augenblick habe ich ein tiefes Verständnis dafür, wenn jemand austreten möchte", sagt Pfarrer Hauptmann aus Indersdorf. Das einzige, was er dagegen tun könne, sei vor Ort eine vernünftige Arbeit zu leisten. "Ich komme gerade von einer Beerdigung, da versuche ich zu trösten, aufzufangen", erzählt er. Bei aller Gebrochenheit, die er selbst verspüre, bemühe er sich, für die Gläubigen da zu sein. "Als Kirche sind wir oft schnell damit, Antworten zu geben", sagt Hauptmann. "Vielleicht ist es für uns im Augenblick besser, erst einmal zu schweigen. Und zuzuhören."

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