Karlsfeld:Von der Schule auf die Straße

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In Karlsfeld kostet schon ein Zimmer 300 bis 400 Euro - das können sich Auszubildende, Studenten und Berufsanfänger nicht leisten.

Von Petra Neumaier, Karlsfeld

Christiane Hagitte weiß auch nicht mehr weiter. Fast jede Woche stehen neue junge Erwachsene, die dringend eine Wohnung brauchen, vor der Karlsfelder Streetworkerin, und fast täglich muss sie ihre Suche nach einer Bleibe erfolglos abbrechen. "Selbst für Leute, die eine feste Arbeit haben, ist eine bezahlbare Unterkunft nicht mehr drin", sagt sie.

Ihre Sorge ist groß. Denn immer mehr junge Menschen schlafen in Karlsfeld und Umgebung auf der Straße oder tingeln von Couch zu Couch. Einige junge Frauen würden sich sogar nur deshalb mit Männern einlassen, um ein Bett zu haben. "Das ist schon fast Prostitution", sagt die Sozialarbeiterin traurig. Wohnungen für Auszubildende, Studenten, Jobber und Jungverdiener im Alter zwischen 18 und 27 Jahren sind ein Riesenproblem, das sich bei weitem nicht nur auf Karlsfeld beschränkt.

Davon berichten Hagittes Kollegen im Landkreis Dachau, in der Landeshauptstadt München, in ganz Bayern, ja sogar bundesweit. "Es gibt einfach keine bezahlbaren Wohnungen für junge Leute", stellt Christiane Hagitte frustriert fest. Selbst kleine Apartments kosten in Karlsfeld und Umgebung bis zu 600 Euro; Zimmer in Wohngemeinschaften 300 bis 400 Euro. Selbst Ortschaften, die noch nicht einmal über eine Busverbindung verfügen, seien kaum günstiger. Dabei sind es beileibe nicht nur Menschen aus finanziell ärmeren Kreisen oder in Lebenskrisen, die eine Wohnung suchen. Häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Eltern, die ihre Kinder rauswerfen: Diese Fälle sind erfreulicherweise in Karlsfeld in der Minderheit.

Lange Warteliste für Sozialwohnungen

Meist haben die Jugendlichen zu Hause keinen Platz mehr, oder sie möchten schlicht und einfach nur ausziehen, um endlich ein selbständiges Leben zu führen. Wie die beiden Männer (Anfang 20), die kürzlich bei Christiane Hagitte um Hilfe baten. Der eine hat gerade eine Banklehre abgeschlossen, der andere ist Einzelhandelskaufmann. Beide haben eine feste Arbeitsstelle, verdienen aber nicht so viel, dass sie sich eine Wohnung leisten könnten. "Und die Warteliste für Sozialwohnungen ist endlos lang", sagt die Sozialarbeiterin.

Wohnungen sind in Karlsfeld vor allem für junge Menschen viel zu teuer und überhaupt zu knapp. (Foto: Toni Heigl)

Fast täglich studieren Christiane Hagitte und ihr Jugendzentrum-Team im Internet die Mietangebote. Nur ein Bruchteil der inserierten Wohnungen kommt preislich in Betracht. Auf die Frage, wie oft es zu einer Besichtigung kommt, lachen alle nur auf. "Bei 20 bis 30 Interessenten kann sich der Mieter das Beste aussuchen. Berufsanfänger haben keine Chance."

Dann erzählt die Streetworkerin noch von einem anderen Fall. Einem jungen Mann, der seit einem Jahr mit seinen Eltern im Obdachlosenheim wohnt. Mutter und Vater arbeiten, aber sie finden keine Wohnung. "Abgesehen davon, dass diese Unterkünfte absolut nichts für Jugendliche sind, die meistens sind schon mehrfach belegt", erklärt Christiane Hagitte. Auch Notfallschlafplätze, wie es sie in München gibt, seien keine Lösung. Lieber würden viele Jugendliche auf der Straße schlafen, als dorthin zu gehen. "Wie soll da jemand sein Leben in den Griff bekommen?" fragt nicht nur sie sich.

Ohne Job keine Wohnung - ohne Wohnung keinen Job

Es ist ein Teufelskreis: Ohne Ausbildung gibt es keine gut bezahlte Arbeit und keine Wohnung - ohne Wohnung keine Ausbildung oder Arbeit. Selten hat einer noch Glück im Unglück: Der höfliche 18-jährige Mann aus Karlsfeld musste von zu Hause raus, weil in seiner Patchwork-Familie kein Platz mehr in der Wohnung war. Im September hat er, nach langer Suche, jetzt eine Unterkunft bei einem Freund und eine Ausbildungsstelle als Hotelfachmann. Der einzige Nachteil: Er muss ins Allgäu ziehen, weil er sich weder mit seinem derzeitigen Aushilfsjob als Koch noch als Azubi jemals in seiner Heimat ein Zimmer hätte leisten können. "Das ist schon irgendwie doof, weil ich gerne hier geblieben wäre, aber wenigstens kann ich im Allgäu eine Ausbildung machen", sagt er. Bis es so weit ist, zieht er mit seinen Habseligkeiten weiter von Couch zu Couch.

Fünf "absolut akute" Fälle betreut Christiane Hagitte derzeit. Fast jede Woche kommen neue hinzu. Das ist bedrückend. Manchmal sei sie, sagt Hagitte, sogar kurz davor, besondere Härtefälle bei sich aufzunehmen, bevor sie auf der Straße landen. "Aber ich muss Distanz wahren", sagt die junge Frau, die aber das Diensthandy mit nach Hause nimmt, um jederzeit erreichbar zu sein. Hin und wieder fragt sie nach, wo die Jugendlichen gerade sind und wie es ihnen geht. "Aber auch das kann keine Dauerlösung sein."

Sozialarbeiterin Christiane Hagitte durchsucht Internet-Portale nach Unterkünften für ihr Klientel. (Foto: Niels P. Joergensen)

Sehnsüchtig schaut sie deshalb gerade auf ein leer stehendes Haus, das in Sichtweite des Jugendzentrums in der Sonne döst. "Daraus könnte man was machen", sagt sie. Nur müsste die Kommunalpolitik im Landkreis ihren Wunsch eben aufgreifen - und die Landesregierung endlich Wohnraum für Jugendliche schaffen. Vielleicht sogar geförderten Wohnraum. Zum Beispiel die Stadt Dachau: Bis Jahresende werden etwa 300 Menschen ohne ein Dach über dem Kopf sein. Eine der Ursachen sind die ungebremst steigenden, jetzt schon zu hohen Mietpreise, die auch ein Normalverdiener kaum mehr zahlen kann.

Kommunalpolitiker müssen handeln

Wie sollen da erst Auszubildende mithalten können. Die Jugendlichen könnten schon zahlen: 200 bis 300 Euro für ein Zimmer. Dafür aber gibt es nichts. "Es kann ja nicht sein, dass jemand, der für die Gesellschaft etwas tut, kein Bett hat", sagt Christiane Hagitte. Die Folgen gingen letztendlich zu Lasten auch der Kommunen: Weil sich viele Jugendliche keine Ausbildung - schon erst recht keine im Handwerk - leisten könnten, gingen sie lieber jobben, um eine Wohnung bezahlen zu können. Später reiche das Geld nicht für die Familie - Sozialhilfe, Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Alkohol ...

Die Streetworkerin ist seit zwei Jahren in Karlsfeld unterwegs. 50 bis 60 Prozent Zuwachs der Fälle hat sie ausgerechnet. Die Dunkelziffer vermutet sie weit höher. Auf der Straße schlafen zu müssen, sei doch beschämend, peinlich und erniedrigend. "Jeder kann zu mir kommen", sagt sie, muss aber zugeben, nur bedingt helfen zu können. "Weil es, solange die politisch Verantwortlichen nichts tun, im Moment keine Lösung gibt."

© SZ vom 31.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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