Jazz in allen Gassen:Laues Lüftchen, weiche Knie

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Die Dachauer wissen, wie man feiert: 11 000 Menschen tanzen und schlendern durch die Altstadt

Von Petra Neumaier, Dachau

Am Tag danach erinnert nichts mehr an die Nacht. Leer gefegt sind die Plätze, wo man fröhlich an Tischen zusammensaß und auf den lauen Sommerabend anstieß. Verstummt sind die Mauern, die das Lachen und die Stimmen um ein Tausendfaches vervielfachten. Verschwunden ist die Musik, die sich in leeren Gassen zu einem Potpourri von Tönen und Klängen vereinte. Sie brachte steife Glieder zum Schwingen, müde Füße zum Tanzen. Mitten auf der Straße: 11 000 gut gelaunte Menschen unter klarem Sternenhimmel, die unterschiedlicher von Alter und Herkunft nicht hätten sein können. Die gemeinsam, friedlich, ausgelassen den Beginn des Sommers feierten. Bei "Jazz in allen Gassen".

Laut wummert das Schlagzeug auf der noch unbeleuchteten Bühne auf dem Rathausplatz. Aus dem weit geöffneten Fenster gegenüber schaut eine alte Dame hinaus. Ihre Augen strahlen. Die Anspielproben liebt die Seniorin sogar fast noch mehr, als die Konzerte selbst. Von ihrer Wohnung über dem Kulturamt der Stadt, hat sie die beste Aussicht. Von hier kann sie beobachten, wie alles aufgebaut wird, wie sich schon lange vor dem offiziellen Beginn die Tische und Bänke füllen, wie die Stimmen lauter und das Klirren der Gläser beim Zuprosten leiser werden. Eltern mit ihren Kindern flanieren vorüber, Pärchen Hand in Hand, Jungs mit coolen "was-geht-ab"- Gesten, die verstohlen und aus den Augenwinkeln die Mädels abscannen.

Genauso vielfältig wie die Besucher, die mit jedem abnehmenden Lichtstrahl der Sonne immer mehr und immer dichter in die Altstadt strömen, ist auch die Musik an diesem Abend. Die, das wird schnell klar, nicht unbedingt und im strengstens Sinne und zum Großteil dem klassischen Jazz zugeordnet werden kann. Aber was wäre der Jazz, wenn er sich eingrenzen ließe, wenn er nicht erlauben würde, weit gefasst zu werden und auch einmal über sich hinaus zu gehen. "Wir wollen, dass für jeden Besucher etwas dabei ist", wird später Renate Kirmair von Kulturamt der Stadt Dachau noch erklären.

"Jazz in allen Gassen": Im Gramsci tritt das Paolo Recchia Quartett aus Fondi auf. (Foto: Niels P. Joergensen)

Trotzdem möchte man ihn suchen, den Jazz und macht sich auf den Weg. Getrieben - und keinesfalls vertrieben - von den ersten Stücken der Gruppen "Äl Jawala & Santeria" und ihrer "Balkan-Soul-Dance-Beat-Modern-Klezmer" beziehungsweise "Ska-Reggae-Punk-Dub-World"-Musik, wie sie es selbst beschreiben, auf dem Rathausplatz. Hinunter geht es gegen den Strom der einfallenden Besucher zum Schermhof, wo vor der Bühne des "Alma Civeja Quartett" alle Plätze besetzt sind. Sehnsuchtsvoll klingt die Stimme der Albanerin, deren Repertoire sich zwischen Soul, Pop, Funk, der Volksmusik ihrer Heimat und ja, tatsächlich Jazz bewegt.

Doch bleibt man nicht zu lange, denn - und das ist wirklich das einzige Negativum an "Jazz in allen Gassen" - immer hat man immer das Gefühl, andernorts etwas zu verpassen. Also geht es weiter und zu den "Amper Stompers" am Pfarrplatz, die zuverlässig seit mehr als zehn Jahren das Kopfsteinpflaster mit ihrem New-Orleans-Jazz der Zwanzigerjahre und Swing zum Beben bringen. Da ist er ja, der gute alte Jazz! Den man immer wieder gerne hört und das wohl verstärkt mit zunehmendem Alter, wie ein Blick ins Publikum verrät. Einige haben sogar Polster und Decken dabei, sie werden hier wohl länger bleiben wollen.

Dichte Trauben von Menschen mit bunten Sprizz-Varianten im Glas feiern derweil an der Ecke Färbergasse. Sie lassen kaum eine Lücke für einen kleinen Bub frei, der ihnen - die Zeigefinger in die Ohren gestopft - entgegenkommt. Tatsächlich ist die Stimme der Leadsängerin Donniele Graves von The Ballroomshakers so gewaltig, dass sie für einen so kleinen Kerl zu viel sein muss. Die Größeren reißt sie jedoch mit und in den Glamour der Fünfzigerjahre. Einfach nur stark! Ein rasches Weitergehen ist ab hier nicht mehr möglich. Zu voll ist jetzt die Augsburger Straße. In Zeitlupe schiebt man sich vorwärts, hat dadurch allerdings ausgiebig Zeit, die gut gefüllten Teller der Entgegenkommenden zu begutachten.

Die Dachauer feiern ausgelassen auf allen Plätzen und Straßen. (Foto: Toni Heigl)

Ein bisschen mehr Raum bietet der dennoch dicht bevölkerte Schrannenplatz, wo die Mitglieder der "Boogie Connection" ordentlich rock'n'rollen. Noch spielen sie an den meisten, im Ratsch Vertieften vorbei. Später wird das Kopfsteinpflaster zum Parkett: Zwischen und vor und hinter den Bänken wird ausgelassen getanzt. In der Menschenmenge lassen sich natürlich auch Landrat Stefan Löwl und Oberbürgermeister Florian Hartmann blicken. Das Stadtoberhaupt ist gerade dort anzutreffen, wo tatsächlich "echter" Jazz gespielt wird: beim Café Gramsci. Hier unterhält das "Paolo Recchia Quartett" auch mit leiseren Tönen sein Publikum. Nur wenige 100 Meter weiter am Wasserturm heizen "Boxhead", die Dachauer Rocker par excellence, dem überwiegend jüngeren Publikum so richtig ein.

Kurze Pause im Kulturamt der Stadt, wo sich die Organisatoren und Helfer hin und wieder sammeln. Mit dem Andrang sind sie zufrieden. Zum Glück nicht so viele wie im Rekordjahr 2015. 14 000 Menschen schoben sich damals durch die Gassen. "Das war hart an der Grenze", sagt Kulturamtsleiter Tobias Schneider. Der Lärmpegel für die Anwohner ist das ohnehin. Beim Argument: "Das ist ja nur einmal im Jahr!" zuckt Kassierer Edgar Mann zusammen. Er wohnt selbst in der Altstadt und zählt dann alle "Einmal-Feste im Jahr" auf. In Summe ganz schön viel. "Aber eigentlich weiß man ja, wenn man hier wohnt, was auf einen zukommt", sagt er und dass eigentlich kein Anwohner das Angebot der Stadt annimmt, während den Veranstaltungen ausquartiert zu werden. "Die meisten feiern einfach mit."

Es geht meist sehr friedlich zu: An diesem Abend hat Stefan Kosuch, Security-Leiter, einen entspannten Dienst. Genauso wie die sechs Einsatzkräfte des BRK-Rettungsdienstes um Einsatzleiter Florian Heiser: Allenfalls Blasenpflaster müssen sie verteilen, "sonst nix", sagt er und schwärmt von den Dachauern, die einmal mehr feiern und friedlich sein können. Knie, die vor Freude und Aufregung weich werden, sind zum Glück nicht behandlungsbedürftig.

Am Kraisy-Brunnen: The Ballroomshakers. (Foto: Toni Heigl)

"Oh mein Gott, ich glaub, ich hab ihn gesehen, das iiist eeeer", kreischt eine Frau im Garten der SZ-Redaktion, während ihr Partner permanent wiederholt: "die Stimme, hör dir doch einfach nur die Stimme an". "Eeeeer" oder "die Stimme" ist Sascha Seelemann, der Dachauer, der Sänger, der Bayern3-Morning-Mann, eben ein Lokalmatador mit großartiger Musikalität, Charme und Witz. Spontan textet er jetzt die englische Strophe seines Songs auf Deutsch um. Besingt Dachau, den herrlichen Abend ... und dass er die zweite Textseite seines Liedes nicht finden kann! Damit hat er noch einmal 100 Prozent Sympathie hinzugelegt. Und wäre es hier nicht so voll und eng, dass sogar ein Türsteher für dosierten Einlass sorgen muss, gefühlt mindestens die Hälfte der anwesenden Frauen wären vor dem Sänger in die Knie gegangen.

Nicht leicht, sich von ihm und der Gute-Laune-Stimmung zu trennen und eine letzte Runde zu drehen. Leider haben sie "String Steps" im Hof der Volksbank Raiffeisenbank bereits ihre Instrumente eingepackt. Also doch etwas verpasst. An allen anderen Plätzen werden die letzten, "also jetzt aber wirklich allerletzten" Stücke angespielt, um 24 Uhr muss Schluss sein. Dann kehrt allerdings noch lange keine Ruhe in der Stadt ein. Man bleibt sitzen. Die Nacht ist lau und die Musik klingt immer noch im Kopf weiter. Nur noch austrinken, nur noch ein bisschen genießen. Sogar, als Tobias Schneider gegen 1.30 Uhr ein letztes Mal durch die Straßen geht, sitzen viele noch - "verjagt wird keiner", sagt er. Er freut sich, dass es einmal mehr mit "Jazz in allen Gassen" gelungen ist, die Dachauer zusammen zu bekommen. Am frühen Morgen, kommt der Bauhof und räumt auf. Übrig bleiben die Erinnerungen an ein wunderschönes Fest.

© SZ vom 06.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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