Historiker Hohendorf im Interview:"Man wusste viel, aber nicht alles"

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Jahrzehntelanges Schweigen: Der Historiker Gerrit Hohendorf spricht über das Euthanasieprogramm der Nazis und fatale Marginalisierung.

M. Bernstein und W. Eitler

Das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zwischen 1939 und 1945 fand in zwei Phasen statt. Systematische Deportationen gab es bis 1941, bis zu den Protesten der katholischen Kirche, insbesondere des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen. Danach wurde die Euthanasie zunächst gestoppt, später aber dezentral in einzelnen Einrichtungen fortgesetzt. In Haar zum Beispiel gab es Hungerhäuser; viele Menschen verloren ihr Leben auch durch tödliche Medikamente. Gerrit Hohendorf, Privatdozent am Institut für Medizingeschichte und Ethik der Technischen Universität München, erforscht die Geschichte der Euthanasie.

Gerrit Hohendorf, Privatdozent am Institut für Medizingeschichte und Ethik der Technischen Universität München, erforscht die Geschichte der Euthanasie. (Foto: Niels P. Jørgensen)

SZ: Herr Hohendorf, Ziel der Forschung müsse sein, die Opfer der Euthanasie aus der Marginalisierung herauszubringen, hieß es auf dem Schönbrunner Symposium. Erklären Sie doch diesen Begriff.

Gerrit Hohendorf: Marginalisierung heißt, dass Gruppen in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, an den Rand der Aufmerksamkeit, aber auch an den Rand gesellschaftlicher Existenz, ökonomischer Existenz. In unserer Forschung muss man dazu die Geschichte der Psychiatrie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Blick haben, wo Menschen institutionalisiert und in große Einrichtungen gebracht wurden. Dort lebten sie teilweise Jahrzehnte.

SZ: Sie wurden so der gesellschaftlichen Wahrnehmbarkeit entzogen?

Hohendorf: Ja, der Großteil der psychiatrischen Einrichtungen ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegründet worden. Für Oberbayern ganz entscheidend und bis heute zentral ist die Gründung der Heil- und Pflegeanstalt in EglfingHaar im Jahr 1905.

SZ: Sie haben aufgezeigt, wie Psychiater solcher Einrichtungen und Juristen seit Beginn der 20. Jahrhunderts selbstverständlich über "lebensunwertes Leben" diskutierten. Kann man sagen, dass diese Diskussion die Euthanasie im Nationalsozialismus vorzubereiten geholfen hat?

Hohendorf: In jedem Fall, man muss das sogar so sagen. Es gab seit Ende des 19. Jahrhunderts eine Debatte, die wir auch heute immer wieder haben, ob Ärzte unheilbar kranke Menschen auf deren Wunsch hin erlösen beziehungsweise töten sollen. Innerhalb dieser Debatte hat sich gezeigt, dass sie sich nicht auf den selbstbestimmten Kranken, der diesen Wunsch äußert, beschränkt. Sondern sehr bald kommen diejenigen Menschen in Blick, die sich nicht mehr selbst äußern können. Menschen in Heil- und Pflegeanstalten oder in Behinderteneinrichtungen wie Schönbrunn im Landkreis Dachau, die als unfähig angesehen wurden, ihren eigenen Willen zu bilden. Menschen, die man als erlösungsbedürftig ansah.

SZ: Töten als Erlösung?

Hohendorf: Die zentrale Metapher, die der Jurist Karl Binding und der Psychiater Alfred Hocher 1920 geprägt haben, ist die des "lebensunwerten Lebens". Der Staat hat damit nicht mehr die Verpflichtung, dieses Leben zu schützen. Sondern im Gegenteil: Er hat die Pflicht des gesetzlichen Mitleids, diese Kranken zu erlösen. Dazu gehörten die Menschen in den Heil- und Pflegeanstalten, die als "Ballastexistenzen" angesehen wurden, die als "geistig tot" galten . . .

SZ: . . . also auch die Menschen mit geistiger Behinderung.

Hohendorf: Dazu gehörten nicht nur Menschen mit einer, wie wir heute sagen, Intelligenzstörung oder Intelligenzminderung. Dazu gehörten beispielsweise auch Menschen mit einer Schizophrenie, die damals als "Endzustände" angesehen wurden, als "niedergeführte Existenzen", mit denen man angeblich nicht mehr kommunizieren kann. Man sah nicht mehr den Menschen als Individuum, sondern man sah lediglich seine Funktionsfähigkeit in der Anstalt.

SZ: Deshalb versuchten die Schwestern von Schönbrunn Akten zu schönen, um die Arbeitsfähigkeit ihrer Schützlinge nachzuweisen. Hat diese Debatte der Marginalisierung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nachgewirkt?

Hohendorf: Die Schrift von Binding und Hocher war keine nationalsozialistische Schrift. Und sie hat bis in die sechziger Jahre hinein in der Rechtsprechung und in der Bewertung der Euthanasietäter eine wesentliche Rolle gespielt. Sie hat auch dazu geführt, dass eine Reihe von Tätern freigesprochen wurde.

SZ: Und dies, obwohl die Akten von der Euthanasiezentrale in Berlin akribisch geführt worden sind?

Hohendorf: Ja, die Akten sind akribisch geführt worden.

SZ: Man wusste also alles?

Hohendorf: Man wusste viel, aber nicht alles. Der Großteil der Registratur der Euthanasiezentrale ist weg. Erhalten geblieben sind die Krankenakten. Aber von denen wusste man nichts. Sie waren 1960 in die Hände des Ministeriums für Staatssicherheit der damaligen DDR gefallen und dann dort in Berlin in einem Sonderarchiv in Hohenschönhausen bis 1990 unter Verschluss gehalten worden.

SZ: Werden diese NS-Opfer heute noch marginalisiert?

Hohendorf: Wir sind gerade erst an einem Prozess angelangt, wo die Gesellschaft begreift: Wir müssen auch an diese Gruppe der NS-Opfer erinnern. In Berlin haben wir gerade die Diskussion, ob an der Tiergartenstraße 4, wo die Euthanasiezentrale stand, ein Dokumentations- und Gedenkort entstehen soll.

© SZ vom 06.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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