Gottesdienst in der evangelischen Versöhnungskirche:Vergessene Opfer

Lesezeit: 4 min

Die Zwangsprostituierten im KZ Dachau

Von Helmut Zeller, Dachau

Ursula Krause war 22 Jahre alt, als sie am 13. Oktober 1942 durch das berüchtigte Tor mit der Aufschrift "Arbeit macht frei" das Konzentrationslager Dachau betrat. Die junge Frau war ein Jahr zuvor ins Frauenkonzentrationslager Ravensbrück verschleppt worden: Weil sie als Ledige zweimal "geschlechtskrank" gewesen sei, sperrten die Nazis sie als "Asoziale" ein. Im sogenannten "Hurenblock" von Ravensbrück waren die Haftbedingungen aber so schlecht, dass sich Ursula Krause für den Dienst als "Bordellmädchen" meldete - in der Hoffnung, nach sechs Monaten entlassen zu werden. So kamen Krause und drei andere Frauen vom KZ Ravensbrück nach Dachau, als Versuchsobjekte des SS-Arztes Sigmund Rascher. Er wollte die Frauen für "Aufwärmversuche mit animalischer Wärme" missbrauchen: Sie mussten nackt und durch Geschlechtsverkehr russische Häftlinge aufwärmen, die zuvor im Eiswasser bis zur Bewusstlosigkeit unterkühlt worden waren. Doch Rascher lehnte Krause - blond und blauäugig - wegen ihrer "einwandfrei nordischen Rassemerkmale" ab. Am 8. Dezember 1942 wurde Ursula Krause aus Dachau entlassen. Ihr weiteres Schicksal ist bislang unbekannt.

1944 wurden weitere Frauen nach Dachau verschleppt, die im Häftlingsbordell als Prostituierte arbeiten mussten. Die Journalistin Mirela Delić und die Wissenschaftlerin Sanja Tolj haben die Geschichte des Bordells in einer Arbeit für die virtuelle Ausstellung "Münchner Leerstellen" erforscht. Demnach mussten im Dachauer Lagerbordell 15 Frauen Zwangsarbeit leisten. Zutritt hatten "Elitehäftlinge", die für "besondere Leistungen" Prämienscheine zur Nutzung des Bordells bekamen. Alle 15 Minuten mussten die Frauen einen neuen Freier bedienen. Verhütungsmittel gab es nicht; Geschlechtskrankheiten und ungewollte Schwangerschaften waren die Folge. "Bis heute werden die Schicksale der 200 Zwangsarbeiterinnen in KZ-Lagerbordellen in der öffentlichen Erinnerung ausgeklammert", stellen die Forscherinnen fest. Tatsächlich wurde nach 1945 keine der Frauen als NS-Verfolgte anerkannt. "Das liegt auch daran, dass alle diese Frauen vom NS-System willkürlich den schwarzen Winkel für die sogenannten Asozialen oder den grünen Winkel für die Berufsverbrecher zugeteilt bekamen", erklärt Kirchenrat Björn Mensing, Historiker und Pfarrer an der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau. Doch während politische, jüdische und - nach langem Kampf - auch homosexuelle KZ-Häftlinge eigene Gedenkorte hätten, fehle dies für die große Gruppe der "Asozialen" und "Berufsverbrecher" nach wie vor. "Sie bleiben bis heute ausgeblendet, weil es keine Lobbyverbände gibt, die sich des Schicksals dieser Menschen annehmen", sagt Mensing.

Die Versöhnungskirche will deshalb besonders dieser "vergessenen Opfer" des NS-Regimes gedenken. Am Sonntag, 15. Oktober, findet ein Gedenkgottesdienst für die ersten ins KZ Dachau verschleppten Frauen statt. Außerdem fiel Mensing auf, dass die Namen der Zwangsprostituierten in der spärlichen Literatur zum Thema "Lagerbordell" aus Gründen des Personenschutzes entweder gar nicht oder anonymisiert oder abgekürzt genannt würden. "Da entsteht ein Gedenken zweiter Klasse", meint der Historiker. "Die Nazis haben den Menschen ihre Namen genommen und ihnen Nummern gegeben - deshalb geht es darum, namentlich an die NS-Opfer zu erinnern." Am Sonntag um elf Uhr beginnt in der Versöhnungskirche der Gottesdienst zum 75. Jahrestag der Verschleppung der ersten weiblichen Häftlinge ins KZ Dachau. Björn Mensing wird namentlich an Ursula Krause erinnern.

Auch der vielen anderen weiblichen KZ-Häftlinge wird gedacht. Eva Fleischmann-ová, die 1944 als junge jüdische Frau aus der damals von Ungarn annektierten slowakischen Stadt Dunajská Streda über Auschwitz ins Dachauer KZ-System kam. Die 20-Jährige war schwanger, als sie im Juni 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Unter schwierigsten Umständen brachte sie am 8. Januar 1945 im Außenlager Kaufering I ihre Tochter Marika zur Welt, mit der sie nach der Befreiung in ihre Heimat zurückkehrte.

In diesem Lager brachten sechs weitere jüdische Frauen, die alle zum Zeitpunkt der Deportation schwanger waren, ihre Kinder zur Welt. Als Jüdinnen waren Mütter und Babys zum Tode verurteilt - der Überstellungsbefehl nach Bergen-Belsen konnte jedoch in den Wirren der letzten Kriegswochen nicht mehr ausgeführt werden. Sie alle wurden am 29. April 1945 im Stammlager von amerikanischen Soldaten befreit. Ihre Geschichte erzählen die Filmemacherinnen Eva Gruberová und Martina Gawaz in dem preisgekrönten Dokumentarfilm "Geboren im KZ".

Bis zur Befreiung waren insgesamt fast 8000 Frauen im Dachauer KZ-System, mehr als 5000 von ihnen waren aus ihren jüdischen Gemeinden in Ungarn verschleppt worden. Viele der Frauen mussten in der Rüstungsindustrie arbeiten. Im Außenlager Agfa-Kamerawerk in München-Giesing kam es zum offenen Widerstand von Frauen gegen den Arbeitsterror. Als die Frauen im Januar 1945 nur noch ungenießbare, dünne Suppe erhielten, stellten sie das Fließband ab und verweigerten die Arbeit. Danach erhielten sie wieder etwas bessere Verpflegung.

Wegen der Beteiligung an diesem Streik wurde Mary Vaders, die als junge Frau in den Niederlanden im Widerstand gegen die deutschen Besatzer aktiv war, im Januar 1945 für sieben Wochen in Isolationshaft in den "Bunker" im Stammlager Dachau eingesperrt. Sie war 1944 über Ravensbrück ins Agfa-Kamerawerk in München-Giesing gekommen. Nach ihrer Befreiung kehrte sie in ihre Heimat zurück. Noor Inayat Khan, die aus einer indisch-islamischen Familie stammte und für einen britischen Militärgeheimdienst den Kontakt zur französischen Widerstandsbewegung herstellte, überlebte nicht. Nach ihrer Verhaftung in Paris wurde sie im September 1944 am Dachauer Krematorium von SS-Männern erschossen. Die Münchner Stadtdekanin Barbara Kittelberger erinnert in ihrer Predigt am Sonntag an alle weiblichen Häftlinge im Konzentrationslager Dachau, von denen mehr als 80 ermordet wurden. In dem KZ waren von 1933 bis 1945 mehr als 200 000 Häftlinge aus ganz Europa eingesperrt. Mehr als 41 500 überlebten den Terror nicht.

Erstmals wird nun auch der Zwangsprostituierten unter den weiblichen Häftlingen gedacht. Die SWR-Journalistin Mirela Delić und Sanja Tolj von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit berichten von ihrem Forschungsprojekt "Sex-Zwangsarbeiterinnen im Lagerbordell des Konzentrationslagers Dachau". Demnach hatte der Dachauer SS-Arzt Sigmund Rascher im Herbst 1942 vier Frauen in Abstimmung mit Himmler angefordert, um sie für wissenschaftlich unsinnige, voyeuristisch motivierte Versuche zu missbrauchen. Diese Frauen blieben einige Monate in Dachau. Erst im April 1944 mussten wieder Frauen im Häftlingsbordell arbeiten - ihre Leiden wurden nach 1945 nicht als NS-Verfolgung anerkannt.

Als Ehrengast kommt der Künstler Alfred Ullrich, dessen Mutter ins KZ Ravensbrück verschleppt wurde. Sie überlebte, viele Mitglieder ihrer Familie aber fielen dem Völkermord an den Sinti und Roma zum Opfer. Auch Pfarrer Walter Joelsen, 91, wird teilnehmen, der mit 18 Jahren wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters in ein Zwangsarbeitslager kam. Die CSU-Bundestagsabgeordnete Katrin Staffler, der Landtagsabgeordnete Martin Güll (SPD), Vorsitzender des Bildungsausschusses, und die stellvertretende Landrätin Marianne Klaffki (SPD) nehmen teil.

© SZ vom 14.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: