Geschichte von gestern für Deutsche von morgen:Am Ende steht ein Fragezeichen

Lesezeit: 3 Min.

Das Dachauer Symposium widmet sich dem Thema, wie Migranten an KZ-Gedenkstätten deutsche Geschichte vermittelt werden kann. Die Historiker erläuterten viele interessante Ansätze - einen Königsweg aber gibt es nicht

Von Walter Gierlich, Dachau

"Geschichte von gestern für Deutsche von morgen?" Das Fragezeichen im Titel des Dachauer Symposiums für Zeitgeschichte, das am Freitag und Samstag im Max-Mannheimer-Haus stattfand, war auch am Ende der Veranstaltung nicht verschwunden. Die Historiker und Gedenkstättenpädagogen zeigten in ihren Vorträgen an den beiden Tagen zwar mehrere Lösungsansätze dafür auf, wie deutsche Geschichte und Migranten zusammengebracht werden könnten, machten aber auch klar, dass es einen Königsweg nicht gibt. Dass das Thema höchst aktuell ist, bewiesen allein schon die beinahe hundert Teilnehmer, die aus ganz Deutschland nach Dachau gekommen waren.

Sybille Steinbacher, aus dem Landkreis Dachau stammende Historikerin an der Frankfurter Goethe-Universität und Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts, die seit 2012 Projektleiterin des Dachauer Symposiums ist, musste zu Beginn einige Referenten entschuldigen. So konnte Gabriele Hammermann, die Leiterin der Dachauer KZ-Gedenkstätte, wegen Krankheit nicht über den "transnationalen Lernort" referieren. Und den Grünen-Vorsitzenden Cem Özdemir hielten die Koalitionssondierungen in Berlin zurück.

Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) machte in seiner Begrüßung klar, dass ein Ziel der diesjährigen Tagung die Zukunft der KZ-Gedenkstätten sei. Was von Nina Ritz, der pädagogischen Leiterin des Max-Mannheimer-Hauses bekräftigt wurde, die die Auseinandersetzung mit dem Thema als eine der zentralen Aufgaben der Gedenkstättenpädagogik bezeichnete. Es müsse dabei um "ein inklusives Wir" gehen, "nicht ein Wir und die anderen", sagte sie.

Volkhard Knigge, Direktor der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie Historiker an der Universität Jena, der in diesem Jahr wissenschaftlicher Leiter des Symposiums ist, betonte in seinem Einführungsvortrag, dass die Diskussion über die Frage im Titel erst Anfang der Neunzigerjahre begonnen habe, obwohl Deutschland längst ein Einwanderungsland gewesen sei und die Kinder der sogenannten Gastarbeiter in ihren Klassen schon lange von der NS-Geschichte erfahren hätten. Durch die seit 2015 Geflüchteten habe das Thema jedoch "aktuell an Wucht gewonnen" und sei durch die "nationale und identitäre Politik der AfD" jetzt auch im Bundestag angekommen.

Wie aber klärt man Jugendlichen aus Migrantenfamilien nun über den Holocaust und die Naziverbrechen auf? Von Pflichtbesuchen in Gedenkstätten für Teilnehmer an Integrationskursen, wie sie etwa Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden gefordert hat, hält Knigge wenig. Ebenso wenig wie von einem Besuchszwang für "Ethno-Deutsche". Dennoch müssten sich nach seiner Ansicht KZ-Gedenkstätten als "kleinarbeitende Bildungsstätten" verstehen, denn es fehle massiv an historischem Wissen in der Gesellschaft - und das nicht etwa nur unter Ausländern. "Die meisten können keinen gut informierten Rechtsextremisten widerlegen", glaubt er.

Volkhard Knigge ist Leiter der KZ-Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora. (Foto: Niels P. Joergensen)

Der Buchenwald-Direktor stellte verschiedene Ansätze zum Umgang mit der NS-Geschichte vor. Von diesen sah er am skeptischsten Adornos Ansatz der "Erziehung nach Auschwitz" zur Denazifizierung und Demokratisierung aus der Erfahrung des Zivilisationsbruchs, weil er deren Wirksamkeit in Frage stellt. Als wichtig betrachtete er darüber hinaus die "Kenntnis über Geschichte und Kultur der Anderen" für ein geeignetes didaktisches Konzept.

Gottfried Kößler vom Fritz-Bauer-Institut machte am Beispiel eines Besuchs einer Schulklasse in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald deutlich, wie wichtig Zuhören sein kann. Eine Schülerin, die bis dahin als Türkin gegolten habe, habe sich dort als Armenierin offenbart. Der Besuch sei für sie die Chance gewesen, "endlich einmal über den Genozid an ihrem Volk zu sprechen". Notwendig für eine Migrationspädagogik ist in seinen Augen vor allem ein: "die Gesellschaft nicht in Zugewanderte und Autochthone zu teilen".

Elke Gryglewski von der Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz in Berlin, wo einst die Vernichtung der Juden beschlossen worden war, berichtete über einen Dokumentenkoffer für die Bildungsarbeit mit Materialien, welche die Verbindung verschiedener Länder mit Nazi-Deutschland zeigten, "auch um dem Gefühl entgegenzutreten, der Zweite Weltkrieg habe nur mit Deutschland zu tun". In ihrem Haus arbeite man viel mit Jugendlichen, die selten oder nie Anerkennung bekommen hätten. Durch die historische Bildung hätten sie an Selbstbewusstsein gewonnen. Als Herausforderung für ihre konkrete Arbeit sieht sie zum Beispiel die Frage des Umgangs mit einem Jugendlichen, der für Erdoĝan ist, "dem ich aber erklären muss, wie in der Türkei der Rechtsstaat abgebaut wird". Mehmet Can, Geschichtslehrer mit türkischen Wurzeln an einem Ostberliner Gymnasium, warnte am Beispiel des 8. Mai 1945 davor, "immer die Migrationsbrille aufzusetzen". Als er in einer Klasse nach der Bedeutung des Datums fragte, habe ausgerechnet eine Bosnierin geantwortet, es sei der Tag der Befreiung für sie. Für ihn ist jedenfalls klar geworden: "Wenn man Deutschland verstehen will, sollte man sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen." Wie das bei Neuankömmlingen funktionieren kann, zeigte Ronald Hirte von der Gedenkstätte Buchenwald, wo ein interessantes pädagogisches Programm läuft. Dort gibt es Fotografie-Workshops für junge Geflüchtete, die dann im ehemaligen Lager und dem Museum Bilder machen, die mit kurzen eigenen Texten ausgestellt werden. Das sei eine Möglichkeit für Migranten, etwas über NS-Historie zu lernen und zugleich ihre eigene Geschichte zu erzählen.

Mehr als einhundert Besucher kamen aus ganz Deutschland nach Dachau. (Foto: Niels P. Joergensen)

Abgerundet wurde die Tagung mit Vorträgen von Oliver von Wrochem (Gedenkstätte Neuengamme) über eine globalgeschichtliche Perspektive auf die NS-Zeit, von Omar Kamil (Universität Erfurt) über die Wurzeln des arabischen Antisemitismus und der Erziehungswissenschaftlerin Astrid Messerschmidt (Universität Wuppertal) über "Geschichtsvermittlung in einer Gesellschaft vielfältiger Zugehörigkeiten und erfahrener Ungleichheiten".

© SZ vom 16.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: