Als Abba Naor ans Rednerpult tritt, bellen sich zwei Hunde rechts und links der Straße wütend an. Der 93-jährige Überlebende der Shoah schaut kurz auf die Hunde, zuckt mit den Schultern und bemerkt trocken: "Ich habe Konkurrenz. Tut mir leid." Die Zuhörer lachen kurz auf. Am Samstagabend ist es nur ein kleines Grüppchen, das an der Kreuzung Theodor-Heuss-Straße/Sudetenlandstraße steht. Die Gäste tragen Masken und schützen sich mit Schirmen vor dem Regen. Darunter sind Landrat Stefan Löwl (CSU), der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD), Karl Freller (CSU), Landtagsvizepräsident und Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten sowie Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte und Aktivisten gegen Rechts. Sie blicken stumm auf die Kränze vor dem Todesmarschdenkmal von Hubertus von Pilgrim. Der Israeli Abba Naor hat den Todesmarsch überlebt, damals war er 17 Jahre alt. Heute ist er so viel älter, aber seine Stimme klingt kräftig, laut und ungebrochen.
"Normalerweise sind hier ganz viele Leute," sagt Abba Naor vor der Veranstaltung, als er neben Karl Freller auf den "Zuschaueransturm" wartet. Ist Naor belustigt oder verärgert, angesichts der überschaubaren Zahl an Besuchern? Seine Miene ist hinter der Maske nicht zu sehen. Wegen der Corona-Pandemie kann die Veranstaltung nur mit etwa 80 Besuchern stattfinden, die den nötigen Abstand wahren können. Kirchenrat Björn Mensing, Pfarrer an der evangelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte Dachau, hat sie organisiert - als einzige Präsenzveranstaltung zum 76. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau am 29. April 1945. Im KZ Dachau waren mehr als 200 000 Menschen aus ganz Europa gefangen, mehr als 41 000 wurden ermordet oder erlagen den Folgen von Hunger, Krankheit, Folter und Zwangsarbeit.
Abba Naor will die Erinnerung an das Verbrechen auch an diesem Tag mitten in der Pandemie bewahren. Zu Tausenden wurden im April 1945 noch in den letzten Tagen vor der Befreiung des Konzentrationslagers Häftlinge des Stammlagers und der Außenlager von der SS auf den Todesmarsch getrieben. Die letzten Überlebenden wurden Anfang Mai im oberbayerischen Alpenvorland befreit. Einer von ihnen ist Abba Naor, Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees, der zum Jahrestag seiner Befreiung aus Israel angereist ist. Später in seiner Rede erzählt und erinnert er daran, wie er und seine Leidensgenossen schon näher am Tod als lebendig, zum Marsch Richtung Alpen gezwungen wurden. Völlig ausgezehrt und kaputt. Er berichtet, dass sie unterwegs manchmal etwas Gras essen konnten, das sie am Wegesrand fanden. Sonst hatten sie nichts. An jedem Tag unterwegs starben hunderte von ihnen. "Wir waren ja schon halb tot, als wir losgegangen sind. Die Leute waren schon durch viele Lager durch."
"Evakuierung" nannten die Nationalsozialisten zynisch die Räumung der Außenlager und des Stammlagers Dachau vor den nahenden amerikanischen Soldaten. Der Begriff Todesmarsch wurde von den Überlebenden geprägt. Am 26. April 1945 zwang die SS noch rund 10 000 Dachauer KZ-Häftlinge zu Fuß, in Zügen oder auf Lastwagen zum Abrücken, wie Mirjam Zadoff, Leiterin der NS-Dokumentationszentrum München in ihrer Rede schrieb. Da sie erkrankt war, konnte sie an der Gedenkfeier nicht teilnehmen. Ihre Rede wurde aber verlesen. Die größte Gruppe von etwa 7000 Gefangenen wurde in einem mehrtägigen Marsch über Allach, Untermenzing, Obermenzing und Pasing nach Süden getrieben. Mehr als 1000 überlebten nicht. Insgesamt fielen den Räumungen der verschiedenen Dachauer Lager mehrere tausend KZ-Häftlinge zum Opfer.
"Es gab kein Wasser, kein Essen, wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen." Naor erzählt, wie sie nach mehreren Tagen Marsch ein totes Pferd fanden und einige Häftlinge aus Hunger und Verzweiflung versuchten, kleine Stücke davon abzureißen. Die Nazis schossen gnadenlos auf sie. So starben viele bei dem Versuch, ein Stückchen Pferdekadaver zu greifen, um zu überleben.
Abba Naor redet ruhig, klar und deutlich. "Das ich noch lebe ist reiner Zufall", sagt er, und man hört am Unterton seiner Stimme heraus, dass er sich seit damals fragt, warum ausgerechnet er und nicht so viele andere, die mit ihm marschieren mussten? Warum nur er und nicht seine Mutter und sein kleiner Bruder Berale, die in Auschwitz-Birkenau ermordet worden waren? Warum nicht sein großer Bruder Chaim, der erst vierzehn Jahre alt war, als er in Kaunas erschossen wurde, weil er das Ghetto verlassen und in der Stadt Brot kaufen wollte? Als der Marsch beginnt ist Abba Naor 17 Jahre alt und war bereits in mehreren Lagern gefangen, im Außenlager Kaufering und im KZ Stutthof. "Wir wurden befreit vom Lager, aber das Lager bleibt immer im Kopf," sagt er. Er erinnere sich auch an die guten Menschen, die ausgemergelten KZ-Häftlingen helfen wollten. In Bad Tölz und Fürstenfeldbruck liefen ihnen Frauen mit Wasser und Nahrungsmitteln entgegen, um sie ihm und seinen Leidensgefährten zu geben. Die Wachmannschaften verjagten sie.
Er werde oft gefragt, sagt Naor, warum er seine Geschichte erzähle, ob es nicht schlimm für ihn sei, sich an all das zu erinnern? "Nein ist es nicht! Meine ganze Familie musste so früh sterben. Jedes Mal wenn ich meine Geschichte erzähle, leben sie weiter." Als Zeitzeuge hat er seit den Neunziger Jahren Tausenden von Schülern und Studenten seine Geschichte erzählt. Damit die Erinnerung an das Menschheitsverbrechen der Shoah bewahrt wird und Auschwitz sich niemals wiederholt. Abba Naor kann es kaum glauben, dass die Menschen so schnell vergessen, und jetzt 76 Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur wieder eine Partei im Bundestag sitzt, in deren Reihen Antisemitismus und völkisches Denken verbreitet ist. "Leben ist eine feine Sache, macht doch das Beste daraus," schließt er. Denn für Naor ist jedes Leben einmalig und wertvoll. "Dort sollte kein Platz für Hass sein."
Der Dachauer Oberbürgermeister Florian Hartmann gesteht in seiner Rede beschämt ein, dass den Deutschen lange nicht bewusst war, dass der Antisemitismus nach 1945 nie wirklich weg war. Dass er sich zum Teil getarnt als sogenannte Israelkritik durch alle politischen Lager zieht und nun auch noch wie zum Hohn "Querdenker" mit dem gelben "Judenstern" auf der Brust auf Demos laufen und ihr "Leiden", - Maske tragen zu müssen, Kontaktverbote und das Warten auf den Impftermin - mit dem Leiden und Sterben von Millionen von Holocaust-Opfern vergleichen.
"Die Todesmärsche fanden vor aller Augen statt. Doch die meisten Einwohner sahen einfach weg, nur wenige waren bereit, den Gefangenen zu helfen", so Mirjam Zadoff. Lokale Amtsträger waren meist bedacht, die Toten rasch zu beerdigen, um die Spuren der Verbrechen zu beseitigen. Trotzdem oder gerade deshalb wurde die Erinnerung an sie außerhalb der KZ-Gedenkstätte Dachau jahrzehntelang verdrängt. 1985 griff der damalige Bürgermeister Gautings, Ekkehard Knobloch, einen Antrag der rot-grünen Gemeinderatsfraktion auf und initiierte ein ortsübergreifendes Erinnerungsprojekt: Überall dort, wo Dachauer Todesmärsche entlang geführt hatten, sollte ein einheitliches Mahnmal errichtet werden. Das war der Ursprung der Skulptur von Hubertus von Pilgrim. 1988 wurden im Münchner Umland sowie in Allach und Pasing die ersten acht Mahnmale zur Erinnerung an die Todesmärsche aufgestellt - gegen zum Teil erhebliche Widerstände von der Kommunalpolitik und Einheimischen. Heute sind es 22 Skulpturen.