Gedenkabend mit einem ehemaligen KZ-Häftling:Frei von Hass

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"1812 ist Napoleon mit seinen Truppen durch Minsk marschiert. Aber daraus mache ich doch heute den Franzosen keinen Vorwurf." (Foto: Toni Heigl)

Warum die Geschichte von Naum Chejfez zu einem Lehrstück für die Gegenwart in Europa wurde.

Von Helmut Zeller, Dachau

Viel hätte nicht gefehlt, und Naum Chejfez, der Gast aus Minsk, wäre in Südafrika gelandet statt in Dachau. Als der russischsprachige Holocaust-Überlebende am Flughafen München eintraf, wurde er von fürsorglichen Airport-Mitarbeitern mit einem anderen Fluggast verwechselt und auf einem Elektrowagen zum Anschlussflug nach Kapstadt gebracht. Der Ausreisestempel aus der EU prangte schon im Pass - aber jetzt sitzt der 92-jährige Weißrusse im Ludwig-Thoma-Haus und spricht, wie geplant, vor ungefähr 120 Dachauern zum Internationalen Holocaust-Gedenktag.

Der Abend zeigt: Ohne Gedenkfeiern geht es nicht

Ritualisiertes Gedenken wird aus gutem Grund kritisiert. Dieser Abend zeigte jedoch wieder einmal, ohne Gedenkfeiern geht es nicht - und vor allem nicht ohne Zeitzeugenberichte. Dachaus Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) verzichtet in seiner kurzen Ansprache wohltuend auf alle politische Floskeln und wohlfeile Beteuerungen des "Nie wieder!". "Die Beschäftigung mit Geschichte ist eine Mahnung für die Gegenwart, sie prägt die Zukunft der Gesellschaft und zeigt, wohin Intoleranz, Hass und falsch verstandener Patriotismus führen", sagt Hartmann. Wieder führen könnte - die Wiederkehr des Hasses, das Erstarken eines exklusiven Nationalismus in Europa erweckt diese Sorge. Ein Satz, an dem sich auch die gegenwärtige Flüchtlingsdebatte orientieren sollte.

Naum Chejfez lässt nach eineinhalb Stunden tief beeindruckte Besucher zurück, denen seine Geschichte wohl noch länger im Kopf herumgeht. Das liegt auch an seiner Erzählkunst. Naum Chejfez berichtet nach einer Einführung durch die KZ-Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann präzise, nüchtern, von einer scharfen Beobachtungsgabe gelenkt, über sein Verfolgungsschicksal - eine Geschichte von den millionenfachen der Vernichtung des europäischen Judentums durch Nazideutschland. Einmal droht ihm die Stimme zu versagen, als er von der Ermordung seiner Mutter und zwei Schwestern, des eineinhalbjährigen Neffen durch die SS im Ghetto von Minsk erzählt. Insgesamt 27 Verwandte sind im Ghetto dem Terror zum Opfer gefallen.

Für die Zuhörer ist sein Bericht ein Geschenk

Sein Blick sinkt in einen Abgrund von Schmerz und Verzweiflung, seine scharf umrissenen Gesichtszüge verdunkeln sich in der aufsteigenden Melancholie. Er ähnelt dann manchen seiner Portraitzeichnungen, die der Werbegrafiker und Künstler nach dem Krieg geschaffen hat. Deshalb wollte er auch nicht vor Publikum reden, und noch am Abend zuvor sprach er von seinem Widerwillen. Für die Zuhörer ist sein Bericht, auch wenn er ihnen manchmal den Atem verschlägt, ein Geschenk. Aber für Naum Chejfez verwandelt sich Vergangenheit in Gegenwart - Angst, Demütigung, Qualen, Schmerz, Trauer und Verzweiflung steigen im Sprechen wieder auf.

Am 24. und 25. Juni, zwei Tage nach dem Beginn des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion, bombardiert die deutsche Luftwaffe die weißrussische Hauptstadt Minsk. Alle wichtigen Einrichtungen und Gebäude werden zerstört, es gibt kein Radio mehr, kein Licht. Der Großteil der Bevölkerung, 52 Prozent der Einwohner sind Juden, konnte nicht flüchten. Ungefähr 75 000 Juden werden ins Ghetto getrieben; nur wenige werden am Ende überlebt haben. "Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 940 000 Juden in Belarus. Ungefähr 800 000 wurden während des Kriegs ermordet", so Historiker Kuzma Kozak aus Minsk. Die deutschen Besatzer, zahlen jedem zehn Reichsmark, der einen außerhalb des Ghettos versteckten Juden verrät. "Es gab welche, die uns verraten haben, aber auch solche, die uns geholfen haben", sagt Chejfez. Von 1941 bis 1944 ermordeten Wehrmacht und SS rund zweieinhalb Millionen Einwohner Weißrusslands - mehr als ein Viertel der Bevölkerung. Die deutschen Soldaten zerstörten 200 Städte und 9000 Dörfer. Häufig trieben sie die Dorfbewohner in Scheunen und verbrannten sie.

Endlose Fußmärsche, Fahrten in Deportationszügen, vernichtende Zwangsarbeit

Naum Chejfez wird vor der Auflösung des Ghettos 1943 für einen Transport mit 2000 Menschen, dem einzigen aus Minsk, ausgewählt. Am Kriegsende wird der damals 20-Jährige unter den 13 Überlebenden sein. Davor liegen endlose Fußmärsche, tagelange Fahrten in verschlossenen Deportationszügen, vernichtende Zwangsarbeit: Majdanek, Budzyn, Radom, Auschwitz, Vaihingen, Hessental, Dachau, Karlsfeld. Von der Selektion auf der Rampe in Auschwitz, von 24 Stunden langem Appellstehen, nackt im Winter, vom Todesmarsch in Richtung Tirol - von allen Orten des NS-Terrors berichtet Naum Chejfez an diesem Abend, und längst ist nicht alles erzählt, noch sind nicht alle Opfer des Massenmordes, die er kennenlernte und denen er sich verpflichtet fühlt, in die Erinnerung zurückgebracht.

Am 30. April 1945 wird Naum Chejfez auf dem Todesmarsch von amerikanischen Soldaten befreit. Er glaubt nicht, dass er in seinem geschwächten Zustand den ersten Abend in Freiheit erleben wird. Aber in einem ehemaligen Luftwaffenlazarett wird er eineinhalb Monate lang behandelt und ins Leben zurückgeholt. Danach kommt er zwei Jahre lang in die Rote Armee, 1947 kehrt er in sein geliebtes, von den Deutschen zerstörtes, Minsk zurück. Aber noch bewegender war für Naum Chejfez ein Tag davor: In Bautzen, wo seine Einheit stationiert ist, erhält er einen Brief - von seinem Vater. "Mir wurde schwarz vor Augen, ich zitterte am ganzen Leib, ich konnte nicht atmen, als ich seine wunderschöne Handschrift sah." Sein Vater, der während des deutschen Überfalls auf Minsk zur Kur auf der Krim war, hatte überlebt.

Hass ist nicht seine Sache, der gehört zu den Tätern - immer

Aus dem Publikum kommt die Frage, wie er das alles überleben konnte? "Das weiß Gott allein", sagt Naum Chejfez. Eine Zuhörerin erklärt, dass sie in seiner Stimme zwar viel Trauer aber keine Anklage gehört habe. Das bewundere sie. Naum Chejfez hat sich eine erlösende Antwort zurechtgelegt: "1812 ist Napoleon mit seinen Truppen durch Minsk marschiert. Aber daraus mache ich doch heute den Franzosen keinen Vorwurf." Er hat heute Freunde unter den Deutschen. Die Zeit, sagt er, helfe. Vielleicht empfindet er in diesem Moment etwas wie Erlösung, da ihm so viele Menschen zugeneigt sind. Aber wenn Naum Chejfez alleine ist oder im vertrauten Gespräch, dann ist es nicht so. Die Zeit heilt keine Wunden. Zerstückeln wollte er die Deutschen, schon beim Klang einer deutschen Stimme im Radio überfiel ihn ein Zittern. Aber Hass ist nicht seine Sache, der gehört zu den Tätern - immer. Das ist seine Botschaft für die Zukunft.

© SZ vom 29.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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