Geburtstag:Der rote Radler

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Mit wehendem Sakko inspiziert Fritz Nustede als Bürgermeister seine Gemeinde Karlsfeld per Fahrrad. Und auch als Altbürgermeister radelt er heute noch immer aus Leidenschaft. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Bis 2008 lotste der SPD-Mann Fritz Nustede als Bürgermeister Karlsfeld in die Moderne. An diesem Samstag wird er 80 Jahre alt

Von WALTER GIERLICH, Karlsfeld

- Eines Tages muss Fritz Nustede mithelfen, eine Frau im Rollstuhl zum Trauungszimmer im Rathaus hinaufzutragen. Der Aufzug ist zu klein. "Am nächsten Tag habe ich entschieden, dass umgebaut wird." Und so kommt es, dass der damalige Bürgermeister 2008 seinem Nachfolger und natürlich auch den Karlsfeldern ein behindertengerechtes und zudem schöneres Rathaus hinterlässt. Kurz vor dem Ende seiner 18-jährigen Amtszeit ist der Umbau des Gebäudes fertig.

Doch beginnen wir ganz am Anfang. Als Fritz Nustede am 1. Juni 1939 im oldenburgischen Dorf Leuchtenburg (einem Ortsteil einer Gemeinde namens Rastede) geboren wird, kann niemand ahnen, dass der Bauernjunge 80 Jahre später als Karlsfelder Altbürgermeister und Ehrenbürger seinen runden Geburtstag in Oberbayern feiern wird. Er hat bereits in jungen Jahren ein bewegtes Leben hinter sich gebracht, ehe er 1966 mit seiner Frau und der zweijährigen Tochter in der Gemeinde Karlsfeld landet, deren Geschicke er später 18 Jahre lang als Rathauschef entscheidend bestimmen wird.

In seinem Heimatdorf besucht der Bub, der sich später zu einem 1,92 Meter großen Mannsbild auswächst, eine Zwergschule, in der neun Jahrgangsstufen in nur zwei Klassen aufgeteilt unterrichtet werden. Bereits als Zehnjähriger muss der kleine Fritz auf dem Bauernhof der Eltern mitarbeiten. Mit zwölf Jahren verdient er sich dann erstes eigenes Geld durch Feldarbeit bei Nachbarn. 15-jährig beginnt er eine Lehre als Huf- und Wagenschmied, stellt aber rasch fest, dass es wegen der Mechanisierung der Landwirtschaft ein Beruf ohne Zukunft ist. "Die Zugpferde wurden durch Traktoren ersetzt", erzählt er einmal, "das heißt, zu Beginn meiner Lehre hatten wir 40 Pferde in der Woche zu beschlagen, am Ende nur noch fünf".

Kurz nach der Gesellenprüfung 1957 nimmt er Abschied von Hammer und Amboss, wird stattdessen Seefahrer - genauer Schiffsmaschinenreiniger. "Eine schwere und furchtbar dreckige Arbeit in großer Hitze ist das", und so bleibt er ein halbes Jahr später wieder an Land. Er will Schiffsingenieur werden, macht ein einjähriges Praktikum und besucht Abendlehrgänge, schuftet nebenher Säcke schleppend am Hafen, um Geld zu verdienen. 1959 sticht er erneut in See, diesmal als Ingenieurassistent, kommt dabei weit in der Welt herum. Doch 1961 hängt Nustede die Seefahrt endgültig an den Nagel, zieht nach Köln, wird Kältemonteur und lernt in der Domstadt seine zukünftige Frau Gisela kennen. Schon drei Monate später heiraten die beiden 22-Jährigen.

Nächste Station auf dem kurvenreichen Lebensweg ist München, wo Fritz Nustede 1965 beim BMW-Triebwerkbau, der späteren MTU, anfängt. Neben dem Job in der Fabrik bildet er sich zum Ingenieur fort. "Neun Jahre Abendschule, das war damals ganz schön stressig", sagt er im Rückblick. Und der Stress wird noch größer, als Nustede 1971 sein politisches Engagement in der SPD beginnt. Es ist die Zeit innerparteilicher Grabenkämpfe zwischen den etablierten Mitgliedern der Partei und den Jungsozialisten, für deren Ziele sich der inzwischen 32-Jährige nicht erwärmen kann. Er schlägt sich auf die Seite der Mehrheit und wird 1977 Ortsvorsitzender der Sozialdemokraten in Karlsfeld. 1978 zieht Fritz Nustede in den Karlsfelder Gemeinderat ein, wird Vorsitzender der SPD-Fraktion. 1981 übernimmt er das Amt des zweiten Bürgermeisters und gibt den Ortsvereinsvorsitz ab. Als 1990 SPD-Bürgermeister Bruno Danzer, in dessen 30-jähriger Amtszeit Karlsfeld zu einer Großgemeinde mit vorbildlicher Infrastruktur geworden ist, aus Altersgründen nicht mehr antreten darf, wird Fritz Nustede mit dem knappen Vorsprung von 24 Stimmen zu seinem Nachfolger gewählt. "Erst waren es sogar nur zwölf, dann ließ Danzer noch mal nachzählen", erinnert sich Nustede. 1996 war das Ergebnis deutlich: Nustede holte 67 Prozent. 2002 dann hatte er gar keinen Gegenkandidaten.

Es liegt vermutlich an seiner Ingenieurausbildung, dass der heute 80-Jährige zum Gespräch in seinem Wohnzimmer gleich mit Zahlen, Tabellen und Ortsplänen aufwartet, in denen vieles von dem akkurat statistisch aufgelistet ist, was er in seiner Amtszeit erreicht hat. Besonders stolz ist Nustede auf die mehr als 30 Hektar an Grundstücken, die er für die Gemeinde erworben hat. Mehr als 40 Millionen Mark seien dafür in den neunziger Jahren geflossen, erklärt er. Auf vielen Flächen entstanden Wohnungen, aber darunter ist beispielsweise auch das Areal, auf dem bald das vierte Gymnasium des Landkreises errichtet werden wird. "Wohnungsbau war für mich das entscheidende Thema", sagt er und verweist auf die 133 Häuser, die zwischen 1990 und 2008 im Einheimischenmodell errichtet wurden und knapp 80 Sozialwohnungen, die in Kooperation mit der Kreiswohnbaugesellschaft entstanden. Noch heute gerät er sichtlich darüber in Wallung, dass in den 1980er und 1990er die Förderung des Sozialwohnungsbaus durch Bund und Land massiv heruntergefahren worden seien. "Die haben damals behauptet, das brauche man nicht mehr - und auch SPD-Kanzler Schröder hat's so weiterlaufen lassen", ärgert er sich.

Neben dem Wohnungsbau zählt Nustede den starken Ausbau der Kindergarten- und Hortbetreuung zu den Erfolgen seiner Amtszeit - eine Aufgabe, die durch den von der Bundesregierung verfügten Rechtsanspruch und den enormen Bevölkerungszuwachs Karlsfelds mittlerweile zu einem Fass ohne Boden geworden ist. Weniger sichtbar für die Karlsfelder ist ein anderes Projekt aus seiner Amtszeit, das der Altbürgermeister besonders heraushebt: Den Ausbau der Kläranlage mit Stromerzeugung aus Faulgas nennt er "ein Musterstück an Umweltfreundlichkeit und Effizienz". Sanierung und Umbau des 1971 eröffneten Hallenbads für damals neun Millionen Mark zählt Nustede ebenso zu den erfolgreich abgeschlossenen Vorhaben seiner Amtszeit wie den Neubau des Feuerwehrhauses und des Jugendzentrums am See. Froh ist er auch, dass er eines der umstrittensten Projekte gegen alle Widerstände durchgezogen hat: den Bau der Bayernwerkstraße und den Zugang zum Bahnhof von Karlsfelder Gebiet aus. "Alles in allem 15 Millionen Euro hat das Ganze gekostet. Dass die Siedlungsentwicklung westlich der Bahn kommen musste, war jedem klar. Dass dann eine Zufahrt allein über Münchner Gebiet führt, wäre ein Unding", betont er noch heute. In seiner Amtszeit hat die Gemeinde insgesamt 78,5 Millionen in die Infrastruktur investiert.

Womit ist er unzufrieden, was ist in den 18 Amtsjahren nicht gelungen? Auch diese Frage muss am Geburtstag erlaubt sein. Spontan fällt dem Altbürgermeister seine allerletzte Amtshandlung ein: der erste Spatenstich für die "Neue Mitte", das seit Jahrzehnten ersehnte Ortszentrum der Gemeinde. "2008 war von einem auf dem anderen Tag die Katastrophe da", sagt er mit Blick auf die Finanzkrise. Schon ein Jahr später werden die Bauarbeiten eingestellt, die Karlsfelder schauen fünf Jahre lang in ein zwei Hektar großes Loch. Und verwirklicht wird dann eine ziemlich stark veränderte, unattraktivere Planung.

Als Nustede 2008 aus Altersgründen nicht mehr antreten darf und in den Ruhestand geht, hat er nicht weniger als 54 Arbeitsjahre hinter sich. Für die Karlsfelder SPD enden die ersten Nach-Nustede-Wahlen in jenem Jahr mit einem Desaster: Nach 48 Jahren stellt die Partei nicht mehr den Bürgermeister, erstmals gewinnt die CSU mit Stefan Kolbe. Nustede, dessen Markenzeichen es war, dass er fast alle Wege per Fahrrad zurückgelegt hat - zu Kreistagssitzungen in Dachau ebenso wie zu Veranstaltungen in München - und der zahlreiche Radwege hat anlegen lassen, zieht sich komplett aus der Politik zurück. Nur im Dachauer Moosverein, dessen Vorsitz er von 1995 bis 2008 innegehabt hatte, bleibt er bis zum Vorjahr "als eine Art Geschäftsführer" aktiv. 2010 übernimmt er, der schon zuvor einen Großteil seiner Freizeit in seinem Kleingarten verbracht hat, dann doch ein neues Amt: den Vorsitz in der Gartengemeinschaft Dachau. Das hat er bis 2018 inne, obwohl er den eigenen Schrebergarten schon 2016 aufgibt, weil die Arbeit für ihn und seine Frau zu anstrengend wird. Nicht zu strapaziös ist ihm weiterhin das Radfahren. Gut 4000 Kilometer jährlich legt er zurück - seit 2012 allerdings per E-Bike.

Natürlich möchte man auch wissen, wie ein Mann, der seit fast 50 Jahren der SPD angehört, die heutige politische Lage beurteilt. "Ich mache mir durchaus Sorgen über die populistischen Parteien. Dass das eines Tages kein gutes Ende nimmt, diese Sorge ist schon da", sagt er und fährt fort: "Es gibt eine so lange Friedenszeit, die die Leute heute nicht mehr zu schätzen wissen. Ich weiß noch, was Krieg bedeutet."

© SZ vom 01.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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