Fotografie:Der Mann mit der Kamera

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Über viele Jahrzehnte hat der Fotograf Siegfried Scheibner die Arbeit Dachauer Künstler begleitet. Entstanden sind Aufnahmen von seltener Nähe und Intensität. Nun hat er seine Sammlung von rund 1000 Bildern dem Stadtarchiv übergeben

Von Gregor Schiegl, Dachau

Das dürre, angewinkelte Handgelenk, die langen, bleichen Finger geschlossen - die Aufnahme ist von fast sakraler Intensität. Der Blick ist auf das Wesentliche reduziert. Auf Licht und Schatten, Leben und Tod. Als Siegfried Scheibner die Hand seines Freundes Fred Arnus Zigldrum fotografierte, lag der 43-Jährige bereits im Koma. Der Dachauer Fotograf besuchte ihn immer wieder im Krankenhaus und redete ihm zu. "Man hört ja immer wieder, dass es etwas bewirkt, wenn man sich mit den Leuten beschäftigt, auch wenn sie bewusstlos sind." Dazwischen schoss Scheibner Fotos von Zigldrum, der sich zeitlebens selbst gerne inszenierte. Herausgekommen sind Aufnahmen, die den ausgemergelten, schon fast leblosen Leib des Künstlers im Krankenbett zeigen, gebettet wie in einer Grablegungsszene Jesu zwischen faltig aufgeworfenen Laken.

"Ich weiß nicht, ob die Bilder richtig waren", sagt Scheibner heute, 34 Jahre später. Es sind außergewöhnlich gute Bilder, aber auch außergewöhnlich persönliche, nicht nur von Fred Arnus Zigldrum. Über fünf Jahrzehnte hat der Dachauer Profifotograf und Kunstliebhaber ein umfangreiches Oeuvre geschaffen. Die Gefahr, dass es irgendwo in einem seiner wuchtigen alten Wohnzimmerschränke verstaubt, in Vergessenheit gerät oder gar verloren geht, besteht glücklicherweise nicht mehr. Jüngst hat er seine gesammelten Werke dem Stadtarchiv übergeben.

Repros von Bildern Dachauer Künstler gibt es im Archiv schon zuhauf, aber nur wenige Fotodokumente, die die Künstler bei der Arbeit zeigen. (Foto: Niels P. Joergensen)

Die Sammlung umfasst etwa 1000 künstlerisch hochwertige Aufnahmen und Negative aus dem Wirken Scheibners in Dachau. Sie zeigen Künstler, vor allem der Künstlervereinigung KVD mit ihren Werken, bei Ausstellungen im In- und Ausland sowie in ihren Ateliers. Die Beschriftungen der blauen Fotomappen, die sich auf dem Tisch im Stadtarchiv türmen, liest sich wie ein Who is Who der Dachauer Kunstszene: Alfred Ullrich, Herbert Plahl, Gebhard Schmidl, Monika Siebmanns, Bruno Schachtner, Heinz Eder, alle hat er abgelichtet. Auch Bilder von der jüngst verstorbenen gigi finden sich im Bestand. Man könnte die Liste lange weiterführen, dann müsste man aber auch noch die Gastkünstler erwähnen, die in Dachau ausgestellt haben oder die lokalen Politgrößen.

Für Stadtarchivar Andreas Bräunling ist die Sammlung ein großer Gewinn: Repros von Bildern Dachauer Künstler gibt es im Archiv schon zuhauf, aber nur wenige Fotodokumente, die die Künstler bei der Arbeit zeigen, geschweige denn beim Sterben. "Manche finden, ich hätte mäßigend auf ihn einwirken sollen", sagt Scheibner über sein Verhältnis zu Zigldrum. Der junge Künstler war schwerer Diabetiker, das hielt ihn nicht vom Alkohol ab: Live fast, die young. Es gibt Fotos, auf denen sich Zigldrum mit Totenschädeln in Szene setzt. Einen hat er in der Hand, der andere lugt ihm über die Schulter. Die Bilder erzählen mehr von den Künstlern als so manche Monografie. Das macht die Bilder von Scheibner so unfassbar wertvoll.

Siegfried Scheibner hat sein fotografisches Werk abgeschlossen. (Foto: Niels P. Joergensen)

Aber diese Geschichte wäre unvollständig ohne den Erzähler selbst, den Mann auf der anderen Seite der Kamera. Dass Scheibner schon 84 ist, sieht man dem lässig, aber kultiviert auftretenden Mann mit den stahlblauen Augen nicht an. Die Treppen in seinem Häuschen an der Amper läuft er immer noch locker rauf und runter, er spielt Akkordeon, der kleine Swimmingpool im Garten ist keine Dekoration, wenn es nicht zu kalt ist, schwimmt er immer noch seine Bahnen. Nur das Rasenmähen auf dem weitläufigen Grundstück überlässt er lieber dem Mähroboter. Die Fotografie hat er allerdings schon lange an den Nagel gehängt. Die Dunkelkammer mit ihren altmodischen Gerätschaften im Keller gleicht einer Rumpelkammer.

Als Siegfried Scheibner im Erzgebirge das Licht der Welt erblickte, war gerade das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte angebrochen. Die Nazis hatten die Macht ergriffen, der Vater war Parteimitglied; der kleine Siegfried wurde auf die Adolf-Hitler-Schule nach Sonthofen geschickt. Am Tag nach der Kapitulation nahmen britische Soldaten ihn gefangen - zwölf Jahre alt war er damals. Scheibner erzählt das alles freimütig. "Damit Sie verstehen, wer ich bin", sagt er. Der Drill habe ihn gelehrt akkurat zu sein. Deutsche Gründlichkeit, könnte man sagen. Abgesehen von dieser urdeutschen Sekundärtugend ist Scheibner ein Kosmopolit. Er kann auch großartige jiddische Witze erzählen. "Ich habe viele jüdische Freunde", erzählt er. "Ich mag den jüdischen Humor."

Die kunstvollen Aufnahmen von Heinz Eder und Gigi liegen im Stadtarchiv. (Foto: Niels P. Joergensen)

In Manchester studierte Scheibner nach dem Krieg Maschinenbau, dann ging er zu Kodak nach Rochester in die USA, wo sich der Firmensitz der einstmals führenden Fotomarke befindet. Siegfried Scheibner entwickelte zahlreiche patentierte Erfindungen, zum Beispiel PVC-Folie als Bildträger. Er nutzte die Möglichkeiten der Fotografie auch zu eigenen kreativen Schöpfungen, die er Lichtzeichnungen nennt.

"Angeblich hat das ja Picasso erfunden", sagt Scheibner und lächelt süffisant. Aber über die Urheberschaft zu streiten, wäre müßig. Außerdem experimentierten schon in den Zwanzigerjahren Fotografen mit sogenannten Luminogrammen. Was man sicherlich sagen kann: Scheibner führte die Lichtmalerei zu einer gewissen Meisterschaft, davon kann sich jeder in Dachau nun selbst überzeugen.

Mit der Künstlerin gigi gibt es ein schönes Foto, in dem sie mit einem hellblauflammenden Lichtstreif gleichsam tanzt. Daneben gibt es wunderbar Porträts, die trotz ihrer kunstvollen Inszenierung eine verblüffende Leichtigkeit und Natürlichkeit aufweisen. "Sie müssen das Bild komponieren und gestalten", sagt Scheibner, der als erster deutsche Fotokünstler eine Einzelaufstellung im Nationalmuseum in Budapest bekam.

Zu den Merkwürdigkeiten in Scheibners Biografie gehört, dass es gar nicht die Kunst war, die ihn 1959 nach Dachau verschlug, sondern eine Strumpfstrickfabrik am ehemaligen Kräutergartengelände. Dort konnte man die Dienste des gelernten Maschinenbauers gut gebrauchen. Das Unternehmen existierte nur wenige Jahre, Scheibner blieb aber neben seinem Engagement für Kodak noch lange in der Strumpfstrickbranche tätig. Dort machte er ein kleines Vermögen.

Mit den steigenden Lohnkosten kam das Ende der feinmaschigen Branche in Deutschland, auch mit Kodak ging es steil bergab. Glaubt man Siegfried Scheibner hatte er daran einen nicht ganz unwesentlichen Anteil: "Ich habe die Digitaltechnik nie ernstgenommen", sagt er und schüttelt lachend den Kopf über diese Torheit. Zu primitiv wirkten die ersten Resultate, um guter analoger Fotografie ernsthafte Konkurrenz zu machen. Heute weiß er es besser, klar. Nachher ist man immer schlauer. Irgendwo in seinem Haus muss er sogar noch eine kleine Digitalkamera herumliegen haben, aber die benutzt er nie. "Die ist bestimmt längst verrostet", sagt er.

Dann schlägt er vor, nach draußen zu gehen in seinen großen Garten, in die letzten Strahlen der Spätsommersonne. Da kann man ihn auch gut fotografieren.

© SZ vom 15.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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