Fortbildung für Lehrkräfte in Bayern:Pädagogik gegen Ausgrenzung und Hass

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Wer glaubt, Hetze gegen Juden gehöre der Vergangenheit an, irrt sich. Auch an Schulen kommt es immer wieder zu antisemitischen Vorfällen. Lehrer stehen dem Problem oft hilflos gegenüber. Am Effner-Gymnasium wurde nun ein bayernweites Programm gestartet, dass dies ändern soll

Von Julia Putzger, Dachau

Schüler des Gymnasiums in Grafing im Landkreis Ebersberg brachten Ende des vergangenen Jahres einen antisemitischen Klassenchat ans Licht. Der Direktor des Gymnasiums informierte daraufhin die Eltern mit einem Rundbrief, er scheute sich nicht, den Vorfall offen zu thematisieren. Die Reaktion war vorbildlich, doch der Fall zeigt auch, dass Antisemitismus längst in den Klassenzimmern Bayerns angekommen ist. Viele Lehrer sind mit dieser Situation überfordert. Eine bayernweite Fortbildungsinitiative zum Thema Antisemitismus will das nun ändern.

Der Startschuss für das Fortbildungsprogramm, an dem alle Lehrer der weiterführenden Schulen teilnehmen können, fiel am Mittwoch im Josef-Effner-Gymnasium (JEG) in Dachau. "Wir dürfen nicht die Augen verschließen, wenn etwas in unserer Gesellschaft offensichtlich aus dem Ruder läuft", mahnte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) auf der Veranstaltung. Betroffenheit zu zeigen, reiche nicht aus, vielmehr müsse man die Herausforderung in den Schulen annehmen und bestmöglich präventiv handeln.

Neben Schülern sind auch Vertreter aus der Politik erschienen, um dem Antisemitismus den Kampf anzusagen. Von links: Landrat Stefan Löwl, Ludwig Spaenle, der Antisemitismusbeauftragte der Staatsregierung, und Innenminister Joachim Herrmann. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Der bisherige Umgang mit dem Thema war offenbar nicht ausreichend: Schon seit Langem besuchen zwar jährlich Hunderte von Schulklassen die KZ-Gedenkstätte in Dachau, im Geschichtsunterricht sollte das Thema Antisemitismus eigentlich ausführlich behandelt werden. Trotzdem steigen judenfeindliche Straftatbestände in Bayern seit einigen Jahren wieder stark an - und das eben auch an den Schulen. Für diese gibt es zwar keine genauen Zahlen, da eine Informationspflicht nur bei strafrechtlich relevanten Vorfällen besteht und somit eine hohe Dunkelziffer vermutet werden muss. Insgesamt wurden in Bayern 2018 aber 219 antisemitische Straftaten registriert - ein Anstieg von mehr als 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Robert Sigel, der unter dem Antisemitismus-Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle, arbeitet und die Lehrkräfte am Mittwoch mit einem Fachvortrag in das Thema einführte, nannte zwei Gründe dafür, warum eine solche Fortbildungsinitiative nicht schon wesentlich eher gestartet wurde: Erstens nehme man erst seit ungefähr fünf Jahren einen wiedererstarkenden Antisemitismus wahr. Zweitens hätten Verantwortliche in der gesamten Bundesrepublik lange gedacht, dass allein der Geschichtsunterricht und Gedenkstättenbesuche ausreichen würden. Erst ein 2017 erschienener Bericht einer vom Bundestag eingesetzten Expertenkommission, der ein gesamtgesellschaftliches Handlungskonzept empfahl, habe die Sache ins Rollen gebracht. Sigel zeigt sich überzeugt, dass der Antisemitismus in der Gesellschaft schon viel länger wieder präsent ist. Ob das an den Schulen auch so sei, darüber wagt er allerdings keine klare Aussage.

Volles Haus hat Schulleiter Peter Mareis (rechts) im DachauerJosef-Effner-Gymnasium. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Feststeht allerdings: Das Wissen vieler Schüler ist auf diesem Gebiet mangelhaft. So geht beispielsweise aus einer Studie der Körber-Stiftung aus dem Jahr 2017 hervor, dass weniger als die Hälfte (47 Prozent) der deutschen Schüler im Alter zwischen 14 und 16 Jahren weiß, was Auschwitz-Birkenau ist. Bei den Über-17-Jährigen sind es immerhin 71 Prozent.

Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte sei lange von vielen als "Impfung gegen Antisemitismus" erachtet worden, dank derer man gegen alles gewappnet sei, sagte Peter Mareis, Direktor des JEG. Doch das mit dem Impfen sei gar nicht so einfach wie gedacht, gab Innenminister Herrmann zu. Die Pädagogen sollten deshalb ab sofort bestmöglich präventiv tätig werden und durch die Schulungen selbst ein Gespür dafür bekommen, was Antisemitismus wirklich ist. Denn an dieser Stelle taucht ein weiteres Problem auf: Selbst die Lehrkräfte haben zu diesem Thema selbst oft erschreckend große Wissenslücken. Die 2018 erschienene Studie zur "Universitären Lehre über den Holocaust in Deutschland" bescheinigt im Lehramtsstudium "deutlichen Nachholbedarf". Auch Sigel kritisierte, dass angehende Geschichtslehrer während ihres Studiums unter Umständen keine einzige Vorlesung zum Thema Antisemitismus besuchen würden. Dementsprechend könnten sie in kritischen Situationen auch nicht angemessen reagieren. Sie und seien vor allem bei der schwierigsten Form des Antisemitismus, die sich als Israelkritik tarnt, überfordert.

Im Schnelldurchlauf erklärte Sigel den bei der Fortbildung anwesenden Lehrkräften, was Antisemitismus eigentlich ist und inwiefern er sich von anderen Arten der Diskriminierung unterscheidet: Hauptmerkmal sei die Zuschreibung von Andersartigkeit, wie sie beispielsweise aus zahlreichen frühen Darstellungen bekannt ist, zum Beispiel mit großer Hakennase, sowie die Zuschreibung einer besonderen Macht und konspirativer Pläne. In diesen beiden Punkten unterscheide sich der Antisemitismus wesentlich von anderen Arten der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit", denn nirgendwo anders fürchte man sich vor der angeblichen Macht der diskriminierten Gruppe.

Antisemitismus ist längst wieder in den Klassenzimmern Bayerns angekommen. Viele Lehrer sind mit dieser Situation überfordert. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Weiter erläuterte Sigel die fünf Formen des Antisemitismus: So gebe es den christlichen, den völkisch-rassistischen, den islamistischen und den sekundären Antisemitismus sowie den Antisemitismus in der speziellen und sehr schwierigen Form der Israelkritik. Derzeit besonders populär sei der sekundäre Antisemitismus, der vor allem vom Versuch der Schuldabwehr gekennzeichnet sei. Sigel zeigte den Pädagogen als Beispiel dafür eine Karikatur, in der das Eingangsportal des Konzentrationslagers Auschwitz in einer Schneekugel zu sehen ist, nur dass statt weißer Flocken Geldscheine vom Himmel rieseln. Der Vorwurf, dass die Juden aus dem Holocaust nun ordentlich Profit schlagen würden, steckt hinter dieser perfiden Darstellung.

Innenminister Herrmann rege zum Start der Lehrerfortbildung zudem an, sich im Unterricht stärker mit dem heutigen Leben in jüdischen Gemeinden auseinanderzusetzen und sich nicht nur auf die Erinnerungskultur und die historischen Dimensionen zu fokussieren. Sigel forderte, es müsse ein umfassendes Konzept geben, dass Antisemitismus nicht erst im Rahmen des Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht aufgreife, sondern schon viel früher thematisiere, warum Minderheiten bestimmte Eigenschaften zugeschrieben würden. In an Sigels Vortrag anschließenden Workshops konnten die etwa 80 anwesenden Pädagogen das Thema und konkrete Handlungsweisen weiter erarbeiten.

Die Verantwortlichen aus dem bayerischem Kultusministerium und dem Innenministerium, von der Informationsstelle gegen Rechtsextremismus und dem Landesamt für Verfassungsschutz sowie die Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz, die alle gemeinsam hinter dem Projekt stehen, lobten die fachübergreifende Zusammenarbeit und betonten die hohe Relevanz der Initiative.

Seit vergangener Woche trägt das Gymnasium Grafing offiziell einen neuen Namen. Es wurde benannt nach dem Shoah-Überlebenden und langjährigen Vorsitzenden der Dachauer Lagergemeinschaft Max Mannheimer. Das Grafinger Gymnasium gehörte zu den ersten Schulen, in denen Mannheimer, über das Schicksal seiner Familie berichtete. Fast alle seine Angehörigen wurden von den Nazis ermordet, nur weil sie Juden waren. Er selbst überlebte die Zeit in den Konzentrationslagern nur mit knapper Not. 2016 starb er im Alter von 96 Jahren. In Erinnerung bleiben die zwei Sätze, die er den Schülern bei jedem Besuch mitgab: "Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon."

© SZ vom 24.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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