Dadaismus:Die Queen in ihrer Dachauer Zeit

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Die vielleicht erste Performance-Künstlerin der Welt: Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven. (Foto: Privat)

Bevor die vielleicht erste Performance-Künstlerin, Elsa von Freytag-Loringhoven, in New York Weltruhm erlangte, war sie 1890 Malschülerin bei Adolf Hölzel. Edgar Forster erinnert in einem Aufsatz an die heute fast vergessene Ikone des Dada

Von Gregor Schiegl, Dachau

Im Frühjahr 1918 bekam Jane Heap, Herausgeberin des New Yorker Kunstmagazins Little Review, ungewöhnlichen Besuch. Eine Dame betrat ihr Wohnzimmer, bekleidet mit einem schottischen Kilt und Möbelborten um die Gamaschen, langen Eisbecherlöffeln an der Baskenmütze und einem mit Schrot gefüllten Ring am Finger, dazu baumelten zwei Tee-Eier dekorativ vor ihrem Busen. Der Name der Besucherin: Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven. Die damals 44-Jährige war mehr als nur eine exzentrische Erscheinung mit angeheiratetem Adelstitel. Sie war die vielleicht erste Performance-Künstlerin der Welt und den Ehrentitel "Queen of Dada" trägt sie auch nicht umsonst: Ihre Assemblagen aus gefundenen Objekten inspirierten Marcel Duchamp; Ernest Hemingway riskierte für die Veröffentlichung ihrer Gedichte seinen Redakteursposten; sie stand Modell für Man Ray und Theresa Bernstein; sie wurde von der jungen Peggy Guggenheim gefördert.

In der aktuellen Ausgabe der heimatkundlichen Vierteljahresschrift Amperland hat Edgar Forster einen Aufsatz über Elsa von Freytag-Loringhoven veröffentlicht, besser gesagt über Else Plötz, wie sie vor ihren diversen Heiraten hieß: Im Fokus steht ihre Zeit in Dachau, wo sie Malschülerin bei Adolf Hölzel war. Man kann schwerlich behaupten, dass die Jahre in Dachau ihr künstlerisch viel gebracht oder gar ihren Weg zu einer Ikone des Dada bereitet hätten, aber sie werfen ein Schlaglicht darauf, wie weit sie der Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts voraus war, wie radikal modern ihre Auffassung von Kunst war und wie inkompatibel mit der von konservativen Männern geprägten Vorstellungswelt der akademischen Malerei.

Else Hildegard Plötz kam 1874 in Swinemünde in Pommern auf die Welt. Ihre Mutter war Pianistin, der Vater Maurermeister. Offenbar war Julius Plötz kein besonders liebenswürdiger Zeitgenosse, er wird oft als "brutaler" Unterdrücker charakterisiert, und das mag auch ein Grund gewesen sein, warum die junge Else ihrerseits jähzornig und aufsässig agierte und - Skandal! - sogar Zigaretten rauchte. Gegen den Willen ihres Vaters begann sie 1890 ein Studium an der Kunstschule in Berlin. Brach es wieder ab. Versuchte sich als Schauspielerin. Hatte zahlreiche Affären, unter anderem mit dem Dramatiker Ernest Hardt, und arbeitete als Malerin in Rom. Der Tod ihrer Mutter verschaffte ihr eine Erbschaft, die sie finanziell unabhängig machte. Und hier beginnt im Frühsommer 1900 die kurze, aber keineswegs uninteressante Dachauer Episode.

Ihren erst posthum veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen ist zu entnehmen, dass die junge Else in dieser Phase ihres Lebens von Selbstzweifeln geplagt war. Neben der Hoffnung auf einen neuen Liebhaber ging sie nach eigenem Bekunden nach Dachau, um sich dort "in Kunst zu versuchen". Wie sie das genau anstellen sollte, wusste sie selbst nicht so genau - "ich hatte fürchterliche Angst davor", bekannte sie. Brav kaufte sie alle notwendigen Malutensilien und nahm sich sogar einen Lehrer, den Edgar Forster als keinen Geringeren identifiziert als den Maler Adolf Hölzel. Von seinem Unterricht war die junge Künstlerin ganz und gar nicht begeistert. Als Lehrer sei er "absolut zu nichts nütze", schrieb sie, "außer für sich selbst, da er jeden Monat 50 Mark Honorar kassierte, um etwas mysteriös Bedeutendes zu erzählen, aber völlig Unverständliches, wenigstens für mich". In der Biografie "Dada Baroness" von Irene Gammel, die im deutschsprachigen Raum heute als Standardwerk gilt, heißt es: "Der Unterricht verstärkte ihr Misstrauen gegenüber kultureller Orthodoxie und traditioneller Erstarrung."

Ganz fair ist dieses Urteil wohl nicht. Hölzel galt als eiserner Verfechter des Goldenen Schnitts, orthodox oder gar dogmatisch trat er als Lehrer allerdings nicht auf. "Er ließ seinen Schülern viel Freiheit, sich selbst zu entwickeln", sagt Jutta Mannes vom Zweckverband Dachauer Museen. Gemeldet war die Malerin in der Wohnung 382 bei Deger in der Schleißheimer Straße 10, die heute die Hausnummer 25 trägt. Das kleine Gründerzeithaus von 1886 steht heute noch ebenso wie die Ziegler-Villa, in der Hölzel wohnte und in der - wenn er es nicht Freien tat - seinen Malunterricht gab. 50 Mark waren damals viel Geld - es entsprach etwa dem Monatslohn eines Hilfsarbeiters, schreibt Forster, und so verwundert es nicht, dass sich bei der jungen Frau bald Frust einstellte. Ihr Vermögen schmolz dahin. Der "Mann der Männer", der sie entflammen könnte und ihren Liebhaber Ernest Hardt vergessen machen würde, war nirgends zu finden, auch nicht in München, wohin sie zwei mal in der Woche fuhr. "Ich erlebte einige unwichtige Sex-Abenteuer, die mich anekelten oder ekelig amüsierten." Sie hofft auf einen Ehemann und materielle Sicherheit und verabscheut sich zugleich selbst für ihre "Vorliebe für Luxus und Macht".

Ihr Traum: "Ich möchte eine ungeheuer erfolgreiche und leidenschaftliche Künstlerin angewandter Kunst sein - wie es gerade die Zeit in Deutschlands Aufstand ist gegen den erniedrigenden Unsinn des modernen Fabrikstils als auch gegen nachgeahmte oder echte Altertümlichkeit." Einige ihrer Werke stehen heute im Museum of Modern Art in New York und unterstreichen ihre Bedeutung als Künstlerin. Ihre rhythmischen gerne auch mal schonungslos expliziten Gedichte sehen manche als Blaupause für Punkrock-Songs der Sorte, wie sie heute auch Patti Smith singt. Dennoch ist die "Queen of Dada" heute weitgehend in Vergessenheit geraten, auch in Dachau.

Am 15. Dezember 1927 starb sie, völlig verarmt, in ihrer Pariser Wohnung. Der Gashahn war aufgedreht. Bis heute wird gerätselt, ob es ein Unfall war oder ein Suizid.

© SZ vom 30.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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