Dachauer Musiksommer:Tocotronic bringt in Dachau die Neunziger zurück

Lesezeit: 3 min

Im Hintergrund haut Arne Zank auf die Drums, Jan Müller konturiert den Sound an der Bassgitarre, Rick McPhail greift lässig in die Saiten und Dirk von Lowtzow singt in Dachau noch immer wie ein Jugendlicher. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Hamburger Band "Tocotronic" spielt sich auf dem Dachauer Rathausplatz quer durch ihr Repertoire der vergangenen Jahrzehnte und lässt kaum einen Hit aus.

Von Gregor Schiegl, Dachau

Auf der Bühne trägt Gitarrist Rick McPhail ein weißes T-Shirt, auf dem groß das Konterfei von Bob Ross prangt. Die Älteren im Publikum werden sich erinnern: Bob Ross, das war der krausköpfige Mann der früher im Fernsehen binnen weniger Minuten fröhliche Landschaften auf die Leinwand pinselte, etwas von "beautiful happy trees" brummelte und beteuerte, wie kinderleicht das sei. Das Nachmalen versuchte man gar nicht erst, man sah Bob Ross nur staunend zu und freute sich über seine grenzenlose kindliche Begeisterung.

Vielleicht war es ja tatsächlich dieser Bob Ross, der Tocotronic zu dem Lied "Mach es nicht selbst" inspiriert hat, ihrer launigen Protesthymne gegen deutsche Heimwerkerei: "Was du auch machst, sei bitte schlau, meide die Marke Eigenbau." Da singt man gerne mit, auch wenn man es nicht richtig kann.

Tocotronic brennen ein wahres Feuerwerk ihrer Klassiker in Dachau ab

Immerhin äußerst textsicher zeigen sich die 1400 Fans auf dem Dachauer Rathausplatz, was auch daran liegt, dass Tocotronic am Sonntagabend ein wahres Feuerwerk ihrer Klassiker abbrennen: "Kapitulation", "Electric Guitar", "Aber hier leben, nein danke", all diese Knaller bekommt man zu hören. Die besondere Publikumsnähe der Band aus Hamburg zeigt sich auch daran, dass sie mit einem Lied anfängt, das schon 26 Jahre auf dem Buckel hat. Man kann das als Reverenz an die Fans der ersten Stunde sehen, die mit Tocotronic erwachsen und nun auch schon ein bisschen alt und knittrig geworden sind.

Die nass getanzten Zuhörer nötigen die Band zu mehreren Zugaben zurück auf die Bühne. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Sänger Dirk von Lowtzow, schwarzes Hemd und steingrauer Poetenscheitel, springt behende auf die Bühne, reckt die Faust, wechselt von der Rockerpose zu einer Parodie der Hochkultur, dirigiert eine Einspielung vom Band, donnernde Streicherklänge mit Bläsern. Selbstironie ist Teil der DNA dieses vierköpfigen Gesamtkunstwerks namens Tocotronic. Man könnte armtief in die Wühlkiste des Feuilletons greifen und die alten Worthülsen nochmal rausholen: Popdiskurs, Hamburger Schule, oder - seit Veröffentlichung der neusten Scheibe - der Eintritt in eine "postromantische Phase". Man kann sich das aber auch getrost schenken: Tocotronic sind, und das beweisen sie in Dachau einmal mehr, eine Band, die einfach wahnsinnig gute Laune auf den Platz bringt. Selbst optisch: Auf den Verstärkern tummeln sich Plüschtiere: ein Hund, eine Gans, ein Fuchs und das Krümelmonster. Kinderzimmernostalgie.

Dirk von Lowtzow singt mit einer jugendlichen Stimme, als wären noch immer die Neunzigerjahre

Das Schöne an dem Dachauer Konzert ist, dass es einen Querschnitt des Schaffens durch die Dekaden zeigt, ein Best of Tocotronic, in dem alte Nummern wie "Let there be Rock" ebenso erschallen wie "Pure Vernunft darf niemals siegen". Vom neuen Album "Die Unendlichkeit" ist ein geradezu prototypisches Tocotronic-Stück zu hören: eingängige Melodien, ein Text, der eher an ein Gedicht erinnert als einen Popsong, poetisch und parolenhaft zugleich: "Wir brauchen dringend neue Lügen, die uns durchs Universum leiten und uns das Fest der Welt bereiten." Von Lowtzow versteht es, mit seinen großartigen Kleintexten Projektionsflächen aufzuspannen, auf denen alles seinen Platz findet: die Bedeutung, die Atmosphäre, insbesondere das Gefühl, wie das war, jung zu sein, als alles noch so irre intensiv war und man selber noch irgendwie total verpeilt.

Die Musik der Tocos ist vielschichtig und geht doch direkt ins limbische System der Tanzwut: Arne Zank kloppt mit seligem Wumms auf die Drums, Jan Müller konturiert den Sound mit kerniger Bassgitarre, während Rick McPhail lässig in die Seiten greift, virtuos, aber gleichzeitig so dezent, dass die Melodielinie nie ausfranst. Dirk von Lowtzow singt dazu mit einer jugendlichen Stimme, als wären noch immer die Neunzigerjahre, und das Publikum gellt vor Freude "wie ein Stamm von Tuaregs", befindet Lowtzow. Nur einmal wird es ganz still, als er mit gebrochener Stimme auf einem sonst extrem lauten Konzert leise die Saiten zupft: "Unwiederbringlich" heißt das Stück, das vom Nichtdasein erzählt: Wie sich das Leben aus dem Körper eines Kranken schleicht, eines geliebten Menschen, und man selbst noch im Zug sitzt, und als man endlich da ist, ist es zu spät. Man hat sich verpasst. Aber das Leben geht weiter, und Tocotronic rockt.

Als die nassgetanzte Musikgemeinde die vier Hamburger mit beharrlichem Klatschen und Johlen regelrecht zu einer zweiten Zugabe auf die Bühne nötigt, kann sich auch der sonst stets auf ironische Distanz bedachte Dirk von Lowtzow ein Grinsen nicht mehr verkneifen. "Ihr seid ein fantastisches Publikum", sagt er kopfschüttelnd. "Ihr seid echt narrisch." Und was danach kommt, ist klar: "Pure Vernunft darf niemals siegen."

© SZ vom 02.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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