Dachau:"Wir entscheiden nicht mehr von oben herab über den Patienten"

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Chefärztin Gabriele Schleuning vom Bezirk Oberbayern über die steigende Zahl psychisch Kranker und die modernen Therapieansätze wie die Krisenambulanz

Interview von Wolfgang Eitler

Wie dringend eine Krisenambulanz im Landkreis Dachau ist, belegen die offiziellen Zahlen der psychiatrischen Kliniken des Bezirks Oberbayern (kbo) mit ungefähr 100 000 Patienten im Jahr. Also gut zweimal die Einwohnerzahl der Stadt Dachau. Gabriele Schleuning ist Psychiaterin und eine der Chefärztinnen. Vor allem hat sie die Idee der Krisenambulanz erfunden und im Münchner Atriumhaus das Modellprojekt dazu entwickelt, an dem sich nun alle anderen Ambulanzen in Oberbayern orientieren. Für Gabriele Schleuning übernimmt die Psychiatrie heute die Aufgabe, Menschen weiterzuhelfen, die durch veränderte und belastende Umfeldfaktoren - sei es in der Arbeitswelt, sei es im privaten Lebensgefüge - überfordert sind.

SZ: Eine gängige Erklärung für den Anstieg der Behandlungen lautet, dass sich Menschen heutzutage trauen, ihre psychischen Erkrankungen offen zu legen.

Dr. Gabriele Schleuning: Das ist der eine Grund. Es ist tatsächlich so, dass nicht zuletzt wegen unserer jahrzehntelangen Anti-Stigma-Arbeit die Menschen begreifen, dass seelische Störungen und psychische Probleme zum Leben gehören. Gott sei Dank ist diese Botschaft angekommen. Dadurch tun sich die Menschen leichter, sich in psychischer Not an die entsprechenden Stellen - vom Hausarzt bis zu unserem Krisendienst - zu wenden.

Mit anderen Worten. Der Ausbau der psychiatrischen Hilfeangebote ist dringend nötig?

Außerdem sind die psychiatrischen Hilfeangebote wesentlich menschenfreundlicher und patientenorientierter als früher.

Dann erhöht das bessere Angebot die Nachfrage?

Absolut, so kann man es sagen. Als ich in Haar angefangen habe, gab es nur diese große stationäre, zentrale psychiatrische Einrichtung in Oberbayern und dazu niedergelassene Ärzte. Wenn ein Mensch nach 17 Uhr eine psychische Krise bekam, hatte er nur die Möglichkeit, nach Haar eingewiesen zu werden.

Und dann konnte es passieren, dass er in Handschellen abgeführt wurde, weil er nicht dorthin wollte.

Das konnte passieren. Auch die Polizisten hatten damals noch viel weniger als heute verstanden von dem, was bei einem Menschen in einem psychischen Ausnahmezustand vorgeht.

Dann ist es also sehr gut, dass es mehr psychiatrische Hilfe und mehr und bessere Angebote gibt?

Vor allem mehr Angebote, die den Menschen da abholen, wo er sich befindet. Kleine Einrichtungen, offene Einrichtungen, in denen nicht nur Ärzte im weißen Kittel zu sehen sind. Heute entwickeln wir Therapien unter Begriffen wie "Verhandeln statt behandeln" oder "Geteilte Entscheidungsfindung": Wir entscheiden nicht mehr von oben herab über den Patienten.

Gabriele Schleuning ist Psychiaterin und Chefärztin der Angebote des Bezirks Oberbayern für München Süd und West. (Foto: Rumpf)

Dieser Ansatz ist also endlich in Dachau angekommen mit der Ambulanz, der Tagesklinik und der Option ambulanter Behandlung zuhause?

Genau so kann man es sagen.

Es ist anzunehmen, dass die Gründe für die Zunahme psychiatrischer Behandlungen nicht nur in der Steigerung des Angebots und der Anti-Stigma-Politik zu sehen sind. Sie deuteten bei der Präsentation der Dachauer Ambulanz die Situation der Arbeitswelt als Grundproblem an.

Halten Sie sich doch nur vor Augen, wie die Welt sich in den vergangenen 20 Jahren verändert hat. Und wenn man weiß, wie der Menschen tickt, dann versteht man: Ein Drittel der Menschen sind den Anforderungen der heutigen Zeit nicht mehr gewachsen. Das Arbeitsleben sei da an vorderster Stelle genannt.

Ein Schlagwort lautet: Zwang zu Selbstoptimierung.

Dazu kommen noch die Erhöhung der Komplexität, die Beschleunigung, der Zwang zur Flexibilität und die ständigen steigenden Ansprüche an die soziale Kompetenz. Viele schaffen all diese Herausforderungen nicht mehr. Es gibt Menschen, die an solchen Ansprüchen wachsen, aber es gibt solche, die dadurch krank werden.

Dann behandelt die Psychiatrie nur die Phänomene? Denn an die Ursachen in der Arbeitswelt kommt sie nicht heran.

Nein. Wir machen deswegen auch Fortbildungen für Führungskräfte in der Wirtschaft über seelische Gesundheit. Sie sollen erfahren, was nötig ist, damit ein Mensch an seinem Arbeitsplatz nicht überfordert ist. Und im Einzelfall suchen wir unter Umständen gemeinsam mit dem Patienten und dem Unternehmen nach Wegen, wie die Stress-Spirale beendet werden kann. Wie der Patient da rauskommt.

Psychiatrie heute ist also mehr als die Behandlung von Symptomen.

Sogar sehr viel mehr. Außerdem hat sich das Spektrum der behandelten Krankheiten erheblich erweitert. Früher gab es die klassischen Störungen wie die Schizophrenie. Heute kommen zahlreiche Erkrankungen wie Angststörungen, traumatische Störungen oder mittelschwere Depressionen hinzu. Das sind die Erkrankungen, die zunehmen. Ich sage mal, die Kerngruppe der psychischen Erkrankungen ändert sich, statistisch gesehen, kaum.

Also Störungen, die mit der Arbeitswelt zusammenhängen?

Allgemein gesagt, die umfeldabhängig sind. Dazu zählt auch, als weitere wichtige Ursache für psychische Erkrankungen, der Verlust tragender familiärer Strukturen. Man kann sagen, eines traditionellen Verbundes wie der Familie. Der hat schon getragen. In München leben 60 Prozent aller Menschen in Single-Haushalten. Das Wohnen alleine ist nicht der natürliche Zustand, in dem der Menschen wächst. Der Mensch ist dafür geschaffen, sich mit anderen Menschen auszutauschen. Man braucht den Spiegel durch andere Menschen.

Die Psychiatrie befasst sich heutzutage mit den Folgen des gesellschaftlichen Wandels als Krisenphänomen?

Wir befassen uns mit den Veränderungen familiärer Strukturen und den Ansprüchen der Arbeitswelt. Aber dazu kommt noch die Virtualisierung der Welt. Wenn Sie sich vorstellen, wie viele junge Menschen, die fast noch Kinder sind, in einem dunklen Zimmer ihre Zeit am Computer verbringen, anstatt draußen mit anderen zu toben und zu spielen.

Was sagen Sie zum aktuellen, weltweiten Pokemon-Hype?

Der ist für mich erschreckend. Als junger Mensch wächst man daran, dass man sich mit lebendigen Menschen reibt, rangelt und auch streitet. Daran lernt man, daran erweitert man sein soziales Repertoire. Hingegen in dieser Spielwelt: Da kann man immer der sein, der alles in der Hand hat. Dann geht man raus, dann ist man verschüchtert und entwickelt nicht selten soziale Phobien. Mit einer eigenen Sprechstunde für Internetabhängige versuchen wir diesem Phänomen therapeutisch zu begegnen.

© SZ vom 20.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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