Dachau:Stimmen der Geschundenen

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Das Gesicht und seine Stimme: Zu den Zitaten von Überlebenden wurden ihre Bilder präsentiert. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Schüler zitieren in einer Lesung Überlebende des Holocausts und machen so ihr Schicksal greifbar

Von Johannes Korsche, Dachau

Das Gedenken an die Opfer des Konzentrationslagers Dachau ist in der Regel kollektiv, allein schon wegen der unfassbaren Anzahl an Opfern. Das Einzelschicksal droht in der Masse unterzugehen. Der Auftakt des Rahmenprogramms zu den diesjährigen Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau beleuchtete dagegen das konkrete Schicksal von Befreiern und Befreiten. Schüler der Klasse 9b des Gymnasiums Herzogenaurach verlasen gemeinsam mit Schülern der Bavarian International School Haimhausen Zitate von Zeitzeugen. Unter der Leitung von Referendarin Julia Rosche hatten die Schüler aus Herzogenaurach in einem vierwöchigen Seminar Zeitungsausschnitte, Tagebucheinträge und Gedichte der ehemaligen Häftlinge gesichtet und ein Zeitzeugengespräch mit dem KZ-Überlebenden Abba Naor geführt. Aus der Fülle an Material haben sie besonders prägnante Aussagen für die szenische Lesung augewählt, ihr Titel lautet nach einem Zitat von Vladimír Feierabend:"Ich habe geschaut, geschaut, geschaut, und war einfach froh" .

Sie wollten den einzelnen Häftlingen so wieder eine Stimme verleihen. Auch wenn man viel lesen müsse, bis man sich in die Situation der Häftlinge hineinversetzen könne, erzählt der 15-jährige Schüler Nicolas Albrecht, der an dem Projekt mitgewirkt hat. Die Texte wurden, wenn möglich, in ihrer Originalsprache belassen: in Englisch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Russisch und Deutsch. Damit die Besucher trotz mangelnder Sprachkenntnisse dem Abend folgen konnten, wurde neben den Rednerpulten eine Präsentation eingespielt, die das jeweilige Zitat ins Englische und Deutsche übersetzte und Bilder der Zitierten zeigte. Da Muttersprachler die Texte vortrugen, entstand eine große Intensität und Nähe zu den vorgestellten Zeitzeugen, die durch eine Übersetzung wohl nicht möglich gewesen wäre.

Mit knapp 60 Besuchern, darunter zehn ehemalige Häftlinge des Konzentrationslagers, war die szenische Lesung im Kinosaal der KZ-Gedenkstätte gut besucht. Der erste von vier Teilen der Lesung handelt vom Moment der Befreiung. Sowohl die Sicht der Befreiten als auch der Befreier vermitteln einen guten Eindruck der damaligen Situation und der Emotionen, die die Befreiung auf beiden Seiten auslöste. Der Zuhörer lernt beispielsweise den US-Soldat James F. Dorris Junior kennen, der von der Dankbarkeit der befreiten Häftlinge erzählt. Er bekam den "wahrscheinlich größten Schatz," den ein Häftling besaß, geschenkt: einen Zigarettenstummel, den der Häftling unter "unvorstellbaren Bedingungen" in einer Dose versteckt hatte.

Im weiteren Verlauf der Lesung wurden die Themen Heimkehr und Blick auf Deutschland, Umgang mit den Überlebenden in der Heimat und Umgang mit den Häftlingsgruppen in Deutschland beleuchtet. Sehr aktuell wurde die Lesung am Ende. Alle am Projekt beteiligten Schüler standen gemeinsam auf der Bühne. Die Klasse habe bei der Arbeit mit den Worten und Gedanken der ehemaligen Häftlinge gelernt, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht nur eine Angelegenheit der älteren Generation seien. Das Gedankengut der Ausgrenzung sei in unserer Gesellschaft leider immer noch anzutreffen und man müsse jeder Form von Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung entschieden entgegentreten, sagte eine Schülerin unter dem lang anhaltenden Applaus der Zuhörer. Viele waren sichtlich berührt. Wie recht sie mit dieser Aufforderung hat, zeigte auch ein Zwischenfall an diesem Abend in München. Die Lesung begann mit einer halben Stunde Verspätung, weil ein Bus aus München im Stau stand. Der Grund: Die Demonstration gegen das am Donnerstag eröffnete NS-Dokumentationszentrum am Königsplatz.

© SZ vom 02.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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