"Dachau liest":Literat in Top-Form

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Helmut Krausser liest aus seinem klugen Roman "Für die Ewigkeit"

Von gregor Schiegl, Dachau

Der aus Deutschland geflohene Student Jörg Jäger verdingt sich in Buenos Aires als Klavierlehrer der schönen Fabrikantentochter Francisca Alameda mit dem wohlklingenden Spitznamen "Cis". Es kommt, wie es kommen muss: Der 24-Jährige verfällt der schönen 17-Jährigen und fordert damit sein Schicksal heraus. Die beiden fliehen quer durch Südamerika, verfolgt von den Häschern des Vaters und Cis' perfidem Cousin Fredo Torres, der das Mädchen für sich haben will. Das ist, in groben Zügen, der Plot von Helmut Kraussers Roman "Für die Ewigkeit", den der Autor beim Literaturfestival "Dachau liest" am Samstagabend vorgestellt hat.

Brandneu ist das Buch nicht, rezensiert hat es zur Bestürzung Kraussers noch keine einzige Zeitung von Rang, und nun sitzt er im Adolf-Hölzel-Haus vor nicht mal 30 Leuten, auf der Bühne zieht es, und ihm läuft die Nase. "Heuschnupfen", sagt er. Trotz dieser widrigen Gesamtumstände erleben die Zuhörer an diesem Abend einen Literaten in Top-Form. Die ersten Sätze stimmt er in einer Art Singsang an, den er mit Handbewegungen begleitet, als würde er dirigieren. In Kraussers Texten stecken Melodie und Rhythmus, und es überrascht nicht, dass er auch schon Libretti für die Oper geschrieben hat.

Jörg Jäger, so wie der Protagonist der Geschichte, hieß übrigens auch sein Uronkel, verrät Helmut Krausser. Viel mehr als seinen Namen weiß er nicht von ihm. Die Blaupause zu "Für die Ewigkeit" lieferte Giacomo Puccinis ebenfalls kaum bekannter Verwandter Michele. "Ich bin stolzer Besitzer seiner Sterbeurkunde", berichtet der Autor. Michel Puccini machte dadurch von sich reden, dass er sich mit einem Senator duellierte. Wilde Zeiten waren das, aber auch schon sehr fortschrittliche, wie Krausser anhand einer Zimmervermittlungszentrale illustriert, die es schon vor mehr als 120 Jahren gegeben haben soll.

Auch wenn das Setting und die Zeit ungewöhnlich sind: Kraussers charakteristischen Erzähl- und Figurenkosmos findet man auch in seinem neuesten Werk: Der feingeistige junge Protagonist, der sich mehr schlecht als recht durchschlägt, die halbwüchsige Ausreißerin aus gutbürgerlichem Hause, deren Freiheitsdrang schnell mit den Zumutungen der Wirklichkeit kollidiert, und nicht zuletzt die originellen Gestalten aus der Halbwelt. Der "Mulatte" Frederick mit seinem schnieken weißen Anzug und seinem tadellosen Benehmen erscheint Cis besonders verdächtig und erst recht seine Hilfsbereitschaft. Klüger und witziger kann man Rassismus kaum aufs Korn nehmen.

© SZ vom 12.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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