Dachau:Eintauchen in eine neue Welt

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Pfarrer Walter Joelsen auf seiner Geburtstagsfeier im Jugendgästehaus in Dachau. Ungefähr 60 Freunde und Weggefährten waren gekommen. (Foto: Niels Jörgensen)

Der Pfarrer und einstige NS-Verfolgte Walter Joelsen feiert mit Freunden seinen 90. Geburtstag im Jugendgästehaus

Von Manuel Kronenberg, Dachau

Bloß keine Grußworte. Das hat sich Walter Joelsen ausdrücklich gewünscht. Niemand kann also mit langen Reden seine Freunde und Gäste einschläfern, die ins internationale Jugendgästehaus in Dachau gekommen sind, um mit dem evangelischen Pfarrer und einstigen NS-Verfolgten seinen 90. Geburtstag zu feiern. Etwa 60 Wegbegleiter sind der Einladung gefolgt. Sie sitzen an mehreren Tischen beisammen, Joelsen ist unter ihnen. Eingeladen haben die evangelische Versöhnungskirche und das Max-Mannheimer-Studienzentrum. Nachdem der Sekt ausgeschenkt ist, beginnt das Festprogramm, ganz ohne Ansprachen.

Drei Musiker der Klezmer-Band "Massel Tov" machen den Anfang. Sie betreten die kleine Bühne und sorgen mit temperamentvollen Klängen für lockere Stimmung. Querflöte, Gitarre und Klarinette, mehr brauchen sie dafür nicht. Nach dem Auftritt von Massel Tov übernimmt die Kirchenmusikerin Christine Hänsel. Sie verteilt bunte Zettel, auf denen Liedverse notiert sind und animiert die Gäste, gemeinsam im Kanon für Joelsen zu singen. Schließlich betreten fünf Schauspieler der Theatergruppe "Blickwechsel" den Saal, um Joelsen auf eine weitere besondere Art zu beglückwünschen. Die beiden Damen und drei Herren spielen sogenanntes "Playback"-Theater, bei dem sie mit dem Publikum interagieren. Freiwillige berichten von persönlichen Momenten und Erfahrungen und die Schauspieler setzen das Erzählte improvisatorisch um. Nach anfänglichem Zögern lassen sich die Gäste auf das Vorhaben der Theatergruppe ein. Einige melden sich und erzählen von Momenten aus ihrem Leben, immer dreht es sich um Begegnungen mit Walter Joelsen. Es ist wie ein gemeinsames Erinnern - und so gesehen sehr passend. Denn es war das Erinnern, was in den vergangenen Jahren so wichtig war für Joelsen. Lange Zeit hatte er über seine Vergangenheit geschwiegen.

Wegen der jüdischen Herkunft seines Vaters wurde er während der NS-Zeit in der Schule ausgegrenzt. 1944, als Joelsen 18 Jahre alt war, wurde er zur Zwangsarbeit nach Bad Salzungen in ein Lager der Gestapo deportiert. Er kam noch in zwei weitere Lager, bis schließlich die Amerikaner eintrafen und ihn befreiten. Weil die Kirche ihm immer Halt geboten hatte, studierte Joelsen Theologie. Doch auch nach Kriegsende machte er immer wieder Erfahrungen mit Antisemitismus. Deshalb beschloss Joelsen über seine Abstammung zu schweigen. Erst als er längst im Ruhestand war, kurz vor der Jahrtausendwende, als sich die Reichspogromnacht zum 60. Mal jährte, erzählte er bei einer Predigt zum ersten Mal seine Geschichte.

Joelsen greift zum Mikrofon und wendet sich an seine Gäste. Als er zum ersten Mal von seiner Vergangenheit berichtete, war das wie ein Eintauchen in eine neue Welt, erzählt er. In eine Welt des Erinnerns. Und das bedeutet ihm viel. Er konnte frei von seinen Erlebnissen berichten und traf Menschen, die ihm völlig unvoreingenommen begegnet sind. Wenn er noch einmal leben würde, sagt Joelsen ins Mikrofon, dann würde er nicht alles genauso noch einmal machen. "Aber eines bräuchte ich auf jeden Fall." Er meint damit Freunde und Weggefährten. Menschen, die für einen da sind. Und davon hat Joelsen einige, erzählt er. Ihnen hat er vieles zu verdanken. Und ohne sie hätte er es wohl nicht geschafft, 90 Jahre alt zu werden.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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