Dachau:Ein großer Menschenfreund

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Martin Kieselstein lebte als Arzt in Jerusalem, wo er weit über die Pensionierung hinaus Schoah-Überlebende betreute. Er wurde 89 Jahre alt. (Foto: Toni Heigl)

Von Helmut Zeller, Dachau

Björn Mensing, Pfarrer der evangelischen Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, charakterisierte Martin Kieselstein einmal treffend als einen "großen Menschenfreund". Wer ihm begegnen durfte, war von der Güte, dem Humor und Lebensweisheit des Mannes tief beeindruckt. Jetzt ist der Zeitzeuge, Arzt und Künstler Martin Kieselstein im Alter von 89 Jahren in Jerusalem gestorben. Er hinterlässt viele Bilder und Skulpturen, in denen er sich mit seiner KZ-Haft in Auschwitz, Allach und Dachau auseinandersetzte.

Martin Kieselstein ist bereits vor einer Woche gestorben, wie seine Familie nun Pfarrer Mensing mitgeteilt hat. Seit 1959 lebte Martin Kieselstein als Arzt in Jerusalem, wo er weit über seine Pensionierung hinaus kranke Schoah-Überlebende betreute. 1997 erhielt er dafür eine der höchsten Auszeichnungen, die von der Stadt Jerusalem verliehen werden. Im Ruhestand begann Martin Kieselstein seine Erinnerungen künstlerisch auszudrücken. Verfolgung und Todesangst aber auch sein Glauben und seine Hoffnung nahmen in seinen Bildern und Skulpturen Gestalt an. Seine Werke führten ihn zurück nach Dachau, wohin er im November 2006 zur Vernissage in der Versöhnungskirche anreiste und als Zeitzeuge bei der Gedenkfeier für die Opfer der Pogromnacht im Rathaus sprach.

In den folgenden Jahren wurden seine Werke an vielen Orten in Deutschland und mehreren anderen Ländern gezeigt. Zum 65. Jahrestag seiner Befreiung war Martin Kieselstein 2010 zum letzten Mal in Dachau. In den letzten Lebensjahren war er schwer erkrankt, empfing aber dennoch im März 2014 eine Reisegruppe der Versöhnungskirche zu einem Zeitzeugengespräch in seinem Seniorenwohnheim. Martin Kieselstein hinterlässt seine Frau Eva, zwei Söhne und sechs Enkelkinder.

Martin Kieselstein wurde am 3. November 1925 als erstes Kind einer wohlsituierten jüdischen Kaufmannsfamilie in Marosvásárhely/Siebenbürgen geboren. Im Zweiten Weltkrieg wird dieser Teil Siebenbürgens von Ungarn annektiert. Mit der deutschen Besetzung Ungarns im März 1944 beginnt für Martin, seine Eltern und seine jüngere Schwester eine Zeit schwerster Leiden. Martin muss die Schule verlassen und wird mit seiner Familie in ein Sammellager verschleppt und von dort im Mai 1944 in Viehwaggons ins KZ Auschwitz. An der Rampe trennen SS-Leute die Familie - Mutter und Schwester sieht er nie wieder.

Mit seinem Vater wird er einige Tage später zur Zwangsarbeit nach Dachau deportiert. Zunächst werden beide im Außenlager Rothschwaige - vermutlich unweit der heutigen Dachauer Flüchtlingsunterkunft in der Kufsteinerstraße zu lokalisieren - in Baracken einquartiert. Bald darauf werden Vater und Sohn ins große Außenlager München-Allach verlegt. Dieses Lager dient zum Zwangsarbeitseinsatz im Allacher BMW-Werk, dort wo heute der MTU-Konzern an der Dachauer Straße residiert. Martin hat Glück im Unglück: Er wird in einer Großküche der Organisation Todt im Zieglerbräu in Dachaus Altstadt eingesetzt. Nach einem vermeintlichen Fehlverhalten wird er geschlagen und muss in Allach im berüchtigten Baukommando Zementsäcke vom Bahnhof zum BMW-Werk schleppen. Doch wenig später fordert ihn die Küche wieder an. Martin und sein Vater werden schließlich ins Stammlager nach Dachau verlegt. Ende April 1945 kommt er auf dem Todesmarsch in der Nähe von Seefeld in Tirol frei. Nach einigen Monaten der Erholung im DP-Lager Feldafing kehrt er mit seinem Vater nach Siebenbürgen zurück, das nun wieder ganz zu Rumänien gehört.

Der Trauergottesdienst für Martin Kieselstein findet am Sonntag, 30. August, um elf Uhr in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte statt.

© SZ vom 27.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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