Dachau:Aus Zahlen werden Menschen

Lesezeit: 3 min

Kindheit im Flüchtlingslager - hier in der Notunterkunft in der Tennishalle in Markt Indersdorf. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Etwa 650 Flüchtlinge leben im Landkreis Dachau, bis zum Jahresende sollen es 1400 und mehr werden. Der Landkreis sieht sich mit individuellen Schicksalen konfrontiert, die in der großen Politik nur als Ziffern eines Rechenexempels aufscheinen

Von Helmut Zeller, Dachau

Der erste Dämpfer für den Dachauer Landrat Stefan Löwl (CSU) kommt sofort: Gerade hat er im Gespräch mit der SZ noch seine Hoffnung auf eine politische Lösung der Massenflucht nach Europa ausgedrückt. Da ist der Versuch von Brüssel, die Flüchtlinge nach einem Quotensystem auf die 28 EU-Mitgliederstaaten zu verteilen, schon gescheitert. Großbritannien, Polen, Ungarn und die baltischen Länder lehnen ab. Unterdessen wächst die Zahl der Flüchtlinge und Asylsuchenden - im Landkreis Dachau sollen es 1400 und mehr bis zum Jahresende sein. Momentan leben 650 Flüchtlinge hier. Die Aufgabe der Unterbringung dieser Menschen, so Löwl, werde man stemmen. Aus einem einfachen Grund: "Wir müssen."

In Augsburg oder Ebersberg haben die Landräte Turnhallen beschlagnahmen lassen. Das will der Dachauer Landrat vermeiden. 145 000 Einwohner zählt der Landkreis Dachau; 1400 Flüchtlinge, das wären nur ein Prozent davon. Die 17 Kommunen kooperieren sehr gut, wie Löwl betont. Es gibt jedoch Nachholbedarf: Die Stadt Dachau zum Beispiel sollte nach dem Verteilungsschlüssel 450 Menschen aufnehmen - in dem Sammellager an der Kufsteiner Straße leben 139 Flüchtlinge. Drei Grundstücke kämen noch in Frage: am MD-Parkplatz, an der Mitterndorfer Schule und ein weiteres, über das mit dem Eigentümer noch nicht gesprochen wurde. Schließlich überlegt man noch eine Erweiterung der Sammelunterkunft auf 200 Bewohner.

Das Lager an der Kufsteiner Straße: Eigentlich sind sich alle Fraktionen im Stadtrat darüber einig, dass diese Unterkunft menschenunwürdig ist. Vor gut zwei Jahren versprach Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) einen Neubau. Er habe, sagt Löwl, nachgefragt: "Es läuft zäh." Seit gut einem Jahr ist der Landrat nun im Amt, er hat genug Aufgaben zu lösen. Aber seine größte Sorge gilt, wie er sagt, der Unterbringung und Integration von Flüchtlingen. Deshalb, weil er dieses Problem nicht selbst, sondern nur in Abhängigkeit von der großen Politik lösen kann. Die aber lässt die Kommunen mit dem Problem allein. - Auch wenn Löwl das so nicht formulieren würde. Zwar werden alle Ausgaben des Landkreises - bis auf freiwillige Initiativen mit Ausgaben etwa für eine Flüchtlingsbeauftragte im Landratsamt - vom Freistaat Bayern erstattet. Der Landkreis muss aus eigener Tasche nur einen sechsstelligen Betrag bezahlen - Peanuts für das reiche Dachauer Land. Aber Löwl sagt auch: "Wo geht's hin? Das ist meine große Frage." Damit rührt er an die zentrale politische Frage: Die EU findet trotz Tausender Toter im Mittelmeer keine gemeinsame Antwort auf den Exodus aus Kriegs- und Armutsregionen der Welt. Europa weitet ein bisschen die Seerettung aus, schottet sich aber sonst ab.

Die EU-Mitgliedstaaten sind weit von einer Politik der Gerechtigkeit und Solidarität untereinander und gegenüber den Migranten und Flüchtlingen aus Kriegsgebieten entfernt. Militäraktionen gegen Schmuggler und μMaßnahmen, die Ursachen der Massenflucht in den Herkunftsländern zu bekämpfen - alle Ankündigungen verschleiern nur Untätigkeit. Dennoch setzt Löwl darauf, wie er sagt. Die Kommunen seien die Schnittstelle zwischen individuellem Schicksal und großer Politik. "Hier werden die Zahlen zu Menschen", sagt Löwl, der schon aus seinem christlichen Selbstverständnis heraus helfen will. Aber auch er geht - unter dem Einfluss der Politik - das Problem als Rechenexempel an: Ein Drittel der Flüchtlinge erhalte Asyl oder eine Duldung. Zwei Drittel müssten wieder gehen. Löwl fordert deshalb ein schnelleres Asylverfahren, das im Durchschnitt sieben Monate dauert. Er setzt auf die Einsicht der Betroffenen, die unter Anreizen die Rückreise freiwillig antreten. Nicht auszudenken, wenn etwa 400 Menschen durch Polizeigewalt abgeschoben werden müssten. Vorsorglich sollten, sagt der Landrat, Menschen aus sicheren Drittstaaten nicht dezentral untergebracht werden, da sie ohnehin nicht hierbleiben dürften, so sehr das im Einzelfall menschlich bedauerlich sei.

Abgeschoben werden zurzeit vor allem Menschen aus dem Kosovo - in der Regel Roma, was man gerade in Dachau nicht so deutlich aussprechen möchte. Gerade noch hat man doch Romani Rose, dem Präsidenten des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, bei den Gedenkfeiern zur Befreiung des KZ Dachau und dem Kriegsende vor 70 Jahren die Hand gedrückt. Dachau ist doch ein Lernort. An der KZ-Gedenkstätte erstritten Bürgerrechtler der Sinti und Roma 1980 die Anerkennung des Massenmords an ihrem Volk als einen Völkermord. Die Armutsflüchtlinge aus den Balkanländern werden nach wie vor diskriminiert - "wer betrügt, der fliegt" lautete ein populistischer Wahlkampfslogan der CSU. Landrat Löwl erklärt den Unterschied: Wer aus politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, genieße in Deutschland Asylrecht, dem werde geholfen. Und die Migranten? Da gehe es um die Frage, welche Menschen Deutschland nutzten.

Der Landkreis muss wie alle anderen in Bayern mit den gegenwärtigen Problemen fertig werden. Nach dem Rechenexempel der großen Politik muss das Landratsamt zurzeit 200 Menschen integrieren und dauerhaft unterbringen. Eine große Aufgabe, wie Löwl betont. "Wir brauchen ein Ende", sagt der Landrat über die Zuwanderung. Viel wichtiger wäre aber ein Ende der gegenwärtigen Politik: "Mit der Zeit wird Europa hart für seine Tatenlosigkeit verurteilt werden, wie es verurteilt wurde, als es vor Völkermord die Augen verschloss", sagte der maltesische Premierminister Joseph Muscat.

© SZ vom 13.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: