Dachau:"Es geht um Menschen, die ums Leben kommen"

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Die in Dachau lebende Sadaf Azizi (Name geändert) bangt um ihre Familienangehörigen in Afghanistan. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Vor knapp vier Monaten berichtete die SZ Dachau über die Deutsch-Afghanin Sadaf Azizi, die seit Jahren in Dachau lebt. Teile ihrer Familie aber sind in Afghanistan und werden von den Taliban verfolgt. Ein von der Bundesregierung angekündigtes humanitäres Aufnahmeprogramm könnte eine Flucht ermöglichen.

Von David Schmidhuber, Dachau

"Vor wenigen Wochen sind sie wieder von den Taliban mitgenommen worden, sie haben Stromschläge bekommen." Wenn Sadaf Azizi von "sie" spricht, meint sie zwei ihrer Schwäger und ihren Schwiegervater. Die drei Verwandten Azizis sind das ausgemachte Ziel der Taliban, um einen weiteren Schwager Azizis zu finden. Seit der Machtübernahme der Taliban und dem Abzug der Bundeswehr im August vergangenen Jahres ist er deshalb mit seiner Familie auf der Flucht. Er wird wegen seiner Tätigkeit bei der afghanischen Polizei verfolgt, hat Drohbriefe erhalten. Über seine Brüder und seinen Vater möchten die Taliban vermutlich an den Mann persönlich herankommen.

Der Vorfall sei nicht der einzige gewesen in den Monaten seit ihrem Interview, erzählt Azizi. Anfang April hatte die SZ Dachau über die Situation der Wahl-Dachauerin und ihrer Familie in Afghanistan berichtet. "Wenige Wochen, nachdem wir uns unterhalten hatten, wurden mein Schwiegervater und meine beiden Schwäger von den Taliban gefangen genommen", erzählt sie. "Kurz danach kamen sie frei, sie hatten viele blaue Flecken und Wunden." Ihre Lage scheint ausweglos zu sein, denn Azizis Schwager gehört nicht zu den Personengruppen, die seit dem Abzug der deutschen Truppen die Möglichkeit zur Flucht nach Deutschland haben. Er ist weder deutscher Staatsangehöriger, noch von den deutschen Behörden beschäftigt und damit keine sogenannte Ortskraft gewesen, noch Teil der Gefährdetenliste des Auswärtigen Amtes. Obwohl die Gefährdung klar gegeben ist, können er und seine Familie nicht auf die Liste gelangen. Seit dem Abzug der Bundeswehr wird sie nicht mehr aktualisiert.

Auch für Ortskräfte stockt die Ausreise aus Afghanistan

Problematisch ist dabei, dass selbst die Ausreise für die Ortskräfte stockt und nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden kann. Die Machthaber in Afghanistan lassen ihre Staatsangehörigen nur unter Vorlage eines Passes ausreisen - und das, obwohl im Land kaum Pässe ausgestellt werden. Mit Afghanistans Nachbarland Pakistan besteht eine Vereinbarung, dass besonders gefährdete Personen auch ohne gültigen Pass einreisen dürfen, jedoch verhindern die Taliban laut Auswärtigem Amt auch dieses. 23 614 ehemaligen Ortskräften und Familienangehörigen wurde seit dem Abzug der deutschen Truppen eine Aufnahme zugesichert, 17 556 afghanische Staatsangehörige sind seit der Übernahme der Taliban im August in Deutschland eingereist, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Anfrage mitteilt.

Trotz der Schwierigkeiten bei der Aufnahmesicherung der Ortskräfte stellt sich eine Frage: Sind auf politischer Ebene in Deutschland seitdem Maßnahmen und Pläne erarbeitet worden, um auch die Schutzbedürftigen wie den Schwager von Sadaf Azizi und seine Familie zu retten, die derzeit keine Fluchtmöglichkeit haben? Der im November von der Bundesregierung verabschiedete Koalitionsvertrag sagt: "Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes in Anlehnung an die bisher im Zuge des Syrien-Krieges durchgeführten Programme verstetigen und diese jetzt für Afghanistan nutzen."

Ein neues Programm der Bundesregierung könnte helfen

Ein solches Programm könnte auch Azizis Familie helfen. Auf Anfrage der SZ Dachau äußert sich das Auswärtige Amt dazu folgendermaßen: "Die Bundesregierung arbeitet intensiv an der Umsetzung des Bundesaufnahmeprogramms. Voraussichtlich im Juli sollen die Eckpunkte des Programms vorgestellt werden." Doch weswegen ist bisher nichts über das Hilfsprogramm zu hören? "Es wird mit Hochdruck an einem humanitärem Aufnahmeprogramm gearbeitet. Aber die Abstimmung der spezifischen Ausgestaltung, welcher Personenkreis aufgenommen werden soll, ist noch nicht abgeschlossen. Innenministerium, Außenministerium und Verteidigungsministerium arbeiten aber mit Hochdruck daran", sagt Michael Schrodi, Bundestagsabgeordneter der SPD.

Katrin Staffler, die für die CSU im Bundestag sitzt und wie Schrodi den Wahlkreis Fürstenfeldbruck und Dachau vertritt, sieht die Problematik etwas anders: "Die Kosten für das Aufnahmeprogramm waren nicht im Regierungsentwurf für den Haushalt verankert." Dazu sei im April ein Brief vom Bundesinnenministerium an die Mitglieder des Innenausschusses geschickt worden. In diesem sei von Unterstützung für Haushaltsberatungen die Rede, um die Kosten in Höhe von 25 Millionen Euro für das Aufnahmeprogramm zu decken und damit jährlich 5000 Afghaninnen und Afghanen nach Deutschland zu bringen. 20.000 Menschen pro Jahr seien zunächst angedacht gewesen. "Im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung hat der Innenausschuss von der Bundesregierung einen Umsetzungsplan für das Aufnahmeprogramm bis spätestens zum 31. August gefordert", so Staffler.

Ministerien sind riesige Behörden mit einer gewissen Trägheit

Beate Walter-Rosenheimer, Bundestagsabgeordnete der Grünen aus dem Wahlkreis, macht den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine mit als Grund dafür fest, dass das Aufnahmeprogramm noch nicht angelaufen ist. "Wir wären weiter, wenn dieser Krieg nicht stattfinden würde", so Walter-Rosenheimer. Sie würde sich wünschen, dass es schneller ginge, aber die Ministerien seien riesige Behörden mit einer gewissen Trägheit. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete spricht aber auch von einem konkreten Plan, der in dem humanitären Aufnahmeprogramm aufgegriffen werden könnte: der Öffnung der Gefährdetenliste. "Wir haben angefangen, eine Liste für gefährdete Personen aus Afghanistan anzulegen, die aktuell noch nicht auf die offizielle Gefährdetenliste kommen können."

Für Sadaf Azizi ist das ein Hoffnungsschimmer. Durch die Kontaktaufnahme mit Walter-Rosenheimer konnte sie bewirken, dass ihr Schwager, dessen Frau und ihre vier Töchter wenigstens auf diese Liste kommen. Trotzdem ist bei der zweiten Begegnung in ihrem Wohnzimmer in Dachau offensichtlich, dass sie noch verzweifelter über die der Lage ihrer Familie ist als beim ersten Gespräch. "Wir haben gar keinen Kontakt mehr zu ihnen", sagt sie. Die Familie ihres Schwagers habe seit den beiden Vorfällen der vergangenen Wochen ihr Versteck gewechselt. Seitdem hätten sie zur Sicherheit auch kein Telefon mehr bei sich, um nicht geortet werden zu können.

Die Familie des Schwagers hat das Versteck gewechselt

Wie es dem Schwager und seiner Familie geht, erfahren Sadaf Azizi und ihr Mann nur über die Schwiegereltern, ihre Schwägerin und den jüngsten Schwager Azizis. "Sie sind alle zwei Wochen bei ihrem Aufenthaltsort und bringen ihnen Lebensmittel", erklärt Azizi. Ihr Mann und sie unterstützen die Familie finanziell, soweit es für die beiden möglich ist. Ihre Sorgen sind riesig. "Ich habe große Angst, dass die Taliban meinen Schwiegereltern, Schwagern und Nichten etwas antun", sagt Azizi.

Dazu kommt Enttäuschung über die Solidarität in Deutschland, die nicht für alle Menschen gleich verteilt zu sein scheint. "Die Ukraine ist ein Nachbarland, Afghanistan ist weit weg. Das ist der Unterschied, aber es sollte keinen Unterschied machen. Es geht um Menschen, die ums Leben kommen." Der Schmerz von Sadaf Azizi wird nicht nachlassen, solange ihre Familie nicht nach Deutschland kommen darf. Sie kämpft weiter und hofft, dass das humanitäre Aufnahmeprogramm bald beginnt und damit die Flucht gelingen kann. Azizi hat auch die deutsch-iranische Journalistin Natalie Amiri kontaktiert. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die Berichterstattung in Krisenstaaten zu verbessern, die vergessen werden und den Menschen dort zu helfen. Afghanistan ist eines dieser Länder. Amiri ist oft selbst vor Ort und verfügt über gute Kontakte. Sadaf Azizi hofft, dass ihre Familie nach vielen Monaten endlich gerettet werden kann - egal wie. Und dass die Angst ein Ende hat und ihre Familie in Sicherheit ist.

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