Bergkirchen:Der Sockenhund will auch was sagen

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Ansgar Wilk hat nicht die einzige Rolle - das Publikum spielt mit. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Ansgar Wilk glänzt im Stück "All das Schöne" im Hoftheater mit umwerfender Improvisationskunst

Von Dorothea Friedrich, Bergkirchen

"Der Junge muss an die frische Luft." Das ist Omas Heilmittel für alle kleinen und großen Wehwehchen im gleichnamigen Film nach dem Buch von H.P. Kerkeling. Der Junge, Hans-Peter, hat dagegen eine spezielle Medizin für seine depressive Mutter: sein Komikertalent. Das hilft ihm auch, den Suizid der Mutter zu überwinden. Witz und Komik sind für den britischen Autor Duncan Macmillan gleichfalls Ingredienzien, mit denen sein namenloser Protagonist im Solostück "All das Schöne" allen Schicksalsschlägen - von zerbrochener Ehe bis zum tragischen Ende seiner depressiven Mutter - widersteht. Ansgar Wilk hat das Stück am Hoftheater Bergkirchen inszeniert und spielt die Hauptrolle, denn es gibt auch Nebenrollen, trotz der Bezeichnung "Solostück". Am vergangenen Freitag war die begeistert gefeierte Premiere.

Es beginnt verdächtig heiter. Wilk, ganz gewiefter Conferencier, macht ein paar Lockerungsübungen mit dem Publikum. Das klingt nach Warm-up in irgendwelchen Shows, ist es aber ebenso wenig wie die Aufforderung an einige Zuschauerinnen und Zuschauer, kleine Rollen zu übernehmen. Es ist vielmehr der Auftakt zu einem Improvisationstheater vom Feinsten - und eine Herausforderung für den Mann auf der Bühne. Der kann ja nicht wissen, was seinen "Kollegen" im Parkett so alles einfällt. Doch Wilk reagiert souverän, glänzend und immer schlagfertig. Er hält die Fäden in jeder Minute in der Hand.

Aber was ist denn nun "All das Schöne"? Für den Siebenjährigen sind es Eiscreme, Wasserschlachten, lange aufbleiben und fernsehen, die Farbe Gelb und Leute, die stolpern. Eher zufällig hat er diese Liste begonnen, die ihn sein Leben lang begleiten und immer umfangreicher wird. Er schreibt sich die Finger wund, um seine kranke Mutter aufzuheitern, was ihm lange und erfolgreich gelingt. Wer würde schließlich nicht nach "einem Moment ohrenbetäubender Stille" loslachen, wenn all das Schöne auch bedeutet: ins Meer zu pinkeln. Und wenn die (Selbst-)Therapie mal zu versagen droht, sind Grundschullehrerin Frau Wolf und ihr "Sockenhund" zur Stelle. Das Publikum johlt, denn die Zuschauerin geht förmlich in ihrer Rolle auf, ebenso der eigentlich zuschauende Vater auf Zeit, der herrische Tierarzt, der labernde Dozent oder die süße Nicole. Sie machen einen Gutteil der Faszination dieser Performance aus, weil sie sich auf das Spiel einlassen - und sich mit Wilk die verbalen Bälle gekonnt zuwerfen - alle übrigens ohne zu wissen, dass am Premierenabend noch ein großer Auftritt auf sie wartet.

Als schüchterner Student tauscht der Mann auf der Bühne Goethes "Leiden des jungen Werther" gegen Stunden um Stunden gemeinsamer Lektüre in der Bibliothek mit Nicole ein, die Liste wächst. "Die Aussicht, sich als mexikanischer Wrestler zu verkleiden", oder "Palindrome" sind nur zwei der vielen schönen Dinge, die drin stehen, bis es endlich heißt: "Spät mit jemandem aufwachen, den man liebt".

Doch die Liebe hält - Hochzeitsreise nach Swinemünde hin oder her - nicht allzu lange. Und wieder sind es die Liste und die geliebten Schallplatten, die nun den Erzähler aus der Depression reißen. Da stehen nun so schöne Sachen wie: "Die Tatsache, dass Beyoncé die Cousine vierten Grades von Gustav Mahler ist", "eine Aufgabe abschließen" und als millionster Eintrag: "Eine Platte zum ersten Mal hören." Diese wunderbare, inspirierende Liste ist sozusagen die Begleitmusik zu all dem Schönen, Bemerkenswerten, Berührenden, Nachdenklichen und manchmal Erschreckenden zu all den Erkenntnissen und ab und an gut getarnten Weisheiten, die der Autor seinem fabelhaften Darsteller in den Mund gelegt hat. Denn auch wenn Depressionen heute gerne mit "Burnout" umschrieben werden: Sie sind Teil unserer Gesellschaft, und der Umgang mit dieser Erkrankung ist immer noch tabuisiert.

"All das Schöne" hilft auf unnachahmliche Weise dieses Tabu aufzubrechen, ist eine echte Lehrstunde und tausendmal besser als jeder Ratgeber. Das macht dieses Solotheater und den hinreißenden Ansgar Wilk so sehenswert. Bleibt nur noch der nächste Listeneintrag: ohne Maske im Theater sitzen und die Theaterluft genießen.

Weitere Aufführungen: Freitag, 8. Oktober, 20 Uhr, Sonntag, 17. Oktober, 17 Uhr, Freitag, 29. Oktober, 20 Uhr und Sonntag, 28. November, 17 Uhr.

© SZ vom 07.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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