Bergkirchen:Auf der Suche nach der besten Welt

Lesezeit: 2 min

Mit einer Lesung von Voltaires Candide beendet das Hoftheater Bergkirchen seine Jubiläumsspielzeit

Von Dorothea Friedrich, Bergkirchen

Schlösser haben eine magische Anziehungskraft. Wecken sie doch unweigerlich die Erinnerung an höfische Feste, an Prunk und Pracht längst vergangener Zeiten. Wie es hinter der feinen Kulisse im mühsamen Alltag zuging, verdrängt man gerne, wenn an einem fast lauen Sommerabend das Gebäude selbst als Bühnenbild dient, so wie am vergangenen Mittwoch bei der Lesung von Voltaires "Candide oder die beste aller Welten" im Innenhof von Schloss Lauterbach.

Candide ist ein etwas ins Abseits geratenes Stück Weltliteratur. So war die Lesung eine spannende Wiederbegegnung mit in den in einen Schelmenroman verpackten Gedanken des großen französischen Philosophen. Sie entwickelte sich zugleich zu einem rundum gelungenen Abschluss der Jubiläumsspielzeit des Hoftheaters Bergkirchen, das seit zehn Jahren in der Gemeinde beheimatet ist. Spannend war es, weil Voltaires 1759 erschienene Erzählung nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Auf- und anregend bleibt Candide, weil Voltaire mit geschliffener Sprache Komödie und Tragödie so meisterhaft verwebt. Im Vergleich dazu lesen sich die Werke mancher heutiger Bestseller-Autoren wie die Aufsätze minderbegabter Drittklässler. Christina Schäfer, Ansgar Wilk, Lisa Wittemer und Herbert Müller ließen bei der Candide-Lesung mit sanften, zärtlichen, ironischen, bösen oder verzweifelten Stimmen die Charaktere lebendig werden. Stimmige Passagen aus Eigenkompositionen des jungen Musikers Max I. Milian waren viel mehr als musikalische Untermalung. Scheinwerfergleich beleuchteten sie in teils grellen Tönen Candides Leben.

Ulrikes Beckers projiziert Bilder auf das Schloss Lauterbach. (Foto: Hoftheater)

Das beginnt in Westfalen, auf dem Schloss des Barons Hans Jost Kurt von Donnerstrunkshausen. Dort wird Candide vom "Schlossorakel", dem weisen Magister Panglos in Metaphysiko-Theologo-Kosmolo-Nigologie unterrichtet. Deren Quintessenz ist laut ihrem "Erfinder" Voltaire: "Ohne Ursache keine Wirkung". Das ist - auch gelesen - ein starkes Stück absurdes Theater, lange, bevor es das überhaupt gegeben hat. Den Beweis für den Wahrheitsgehalt dieser These tritt das wirkliche Leben in der westfälischen Pampa an. Als der Baron seine Tochter Kunigunde mit Candide in flagranti erwischt, ist Schluss mit lustig. Candide muss "die beste aller Welten" und die angebetete Kunigunde, "ein munteres Ding, siebzehn Sommer alt und lieblich anzuschaun", fluchtartig verlassen. Er treibt sich in der Welt herum, sucht, findet und verliert immer wieder das ersehnte Paradies, seine Kunigunde und den verehrten Lehrer Panglos. Ein wenig erinnert dieser Abenteurer des Lebens an Parzival und dessen Gralssuche. Glücklicherweise hat Voltaire seinem Candide viel mehr Witz, Verstand und ein ausgeprägtes Faible für tatkräftige Erotik mitgegeben als Wagner 120 Jahre später seinem Bühnenhelden. Candide überlebt Sklaverei, Erdbeben, Kriege und andere Katastrophen mit geradezu nonchalantem Charme - und bleibt ein unerschütterlicher Optimist.

Wie schwer das in einer Welt voller Unglückseligkeiten mit kleinen Inseln der Glückseligkeit ist, machte Ulrike Beckers visuell erfahrbar. In der einsetzenden Dunkelheit funktionierte sie mit beeindruckenden Projektionen den Lauterbacher Schlossturm zur Riesenleinwand um. Friedvolle Collagen mit heiterer Ausstrahlung, beängstigende Pieter Bruegel-mäßige Inferno-Adaptionen, fröhliche Schiffsszenerien und ein gruseliges Autodafé - das waren ritualisierte Verbrennungen von "Ketzern" in Südeuropa - zeigten das ganze Ausmaß guter und böser menschlicher Leidenschaften. "Die Collagen sind noch aus Vor-Photoshop-Zeiten", sagte Ulrike Beckers nach der Vorstellung. Sie habe sie 1992 "in reiner Handarbeit" für ein Candide-Bühnenbild im Stadttheater Herford gemacht. Dort begann das Theaterleben der studierten Germanistin und Kunsterzieherin. "Da hat es mich so gepackt, dass ich mein Lehrerdasein aufgegeben habe", sagte sie.

Heute ist sie im Hoftheater Bergkirchen für Bühnenbild und Kostüme, Dramaturgie und Textbearbeitungen "und für die Theaterbar" verantwortlich. Für sie ist das eigene Theater "der Traum schlechthin". Auch wenn sie - wie Candide - immer wieder Klippen umschiffen muss, mit räumlichen und finanziellen Vorgaben lebt und arbeitet. "Es war ein unverschämtes Glück, dass wir vor zehn Jahren so freundlich aufgenommen worden sind, und ich habe den unbedingten Glauben, das Richtige zu machen", zieht sie Bilanz nach zehn Jahren Hoftheater: "Es stimmt alles" - was sich ebenso über die Candide-Lesung sagen lässt.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: