Ausstellung:Wolles Programm

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Der Dachauer Verein artTextil pflegt nicht nur Kunsthandwerk mit Stoff, sondern auch Freundschaften - und er hält die Erinnerung an die Gräuel der Nazis wach

Von Sonja Siegmund, Dachau

Es herrscht geschäftiges Treiben im Kursraum an der Martin-Huber-Straße in Dachau: Stoffreste werden begradigt, überstehende Fransen abgeschnitten, Knöpfe nach Größen und Farben sortiert, Borten zusammengelegt und bunt gemischte Wollknäuel farblich geordnet. "Jetzt in den Kursferien haben wir Zeit, unseren Flohmarkt im Oktober vorzubereiten", erklärt Annemarie Pattis, eine der fleißigen Frauen und langjährige Vorsitzende von artTextil.

Die Schließung des traditionsreichen Dachauer Handarbeitsgeschäfts "Die Masche" sei auch der Anfang des Vereins artTextil gewesen, erinnert sich Pattis. Die ausgebildete Handarbeitslehrerin gehört zu den etwa 20 Gründungsmitgliedern und ist die Seele des Vereins. "Wir kannten uns von den Näh- und Strickkursen des Geschäfts und wollten unbedingt, dass es weitergeht." Anfangs waren es vor allem ältere Frauen, die zu den offenen Handarbeitstreffs kamen. Aber mittlerweile könnte man bei bestimmten Kursen schon feststellen, dass Jüngere nachrückten, insbesondere handarbeitsbegeisterte junge Frauen, die bereits an Kinder- und Jugendkursen von artTextil teilgenommen haben.

Obwohl es im Internet zahlreiche Videos für Handarbeiten gebe, kommen immer wieder junge Frauen zu den Treffs, die sich dank der persönlichen Tipps von anderen Mitgliedern besser zurechtfinden. Für einfache Handarbeiten genüge ein kurzes Video auf YouTube, sagt Pattis, aber für diffizile Techniken bedürfe es doch der fachlichen Anleitung in speziellen Kursen. Seit den Anfangszeiten sei auch "der einzige Quotenmann" dabei, der dem Verein bis heute treu geblieben ist und die Frauen unterstützt.

Gern besucht werden die offenen Handarbeitstreffs zweimal in der Woche sowie die monatlichen Strick- und Häkeltreffs zum gemütlichen Zusammensein und Erfahrungsaustausch. Für erfahrene Handarbeitskünstlerinnen werden Spezialkurse angeboten wie "Freie Bildstickerei", "Schmuckstricken aus Draht" oder "Tunesisches Häkeln". Für diese Kurse kämen die Frauen sogar von weit her, um Spezialtechniken zu erlernen beziehungsweise sich fortzubilden. Beliebt bei jungen und älteren Teilnehmern sei das Kurswochenende Weben für Anfänger und Fortgeschrittene sowie der Kurs Brettchenweberei, in dem individuelle Gürtel, Lesezeichen und Gitarrenbänder angefertigt werden.

Gemeinsam werkeln macht mehr Spaß: Lydia Pallauf, Herta Dachgruber, Annemarie Pattis und Birgit Walkowiak im Treffpunkt von artTextil. (Foto: Toni Heigl)

Annemarie Pattis wird nach den Sommerferien wieder selbst verschiedene Kurse geben. Zugleich wird die ehemalige Handarbeitslehrerin an dem Spezialkurs "Kreative Nadelspitze" teilnehmen, in dem nach eigenen Entwürfen phantastische Textilkunst gestaltet wird. "Diese Technik interessiert mich sehr, sie wurde schon bei der traditionellen venezianischen Spitze angewandt", weiß Pattis. Die meisten Frauen haben bereits Vorkenntnisse, wenn sie Handarbeitskurse bei artTextil belegen. "Dann kommt der Spaß dazu, und sie bleiben bei uns im Verein." Genauso wichtig sei auch das Gemeinschaftsgefühl beim Handarbeiten in der Gruppe. "Gemeinsam macht's halt viel mehr Freude als allein vor sich hin zu werkeln."

Alle zwei Jahre veranstaltet artTextil eine eigene Ausstellung in den Räumen des Dachauer Wasserturms. In diesem Jahr haben sich die Frauen in ganz unterschiedlicher Art mit dem Thema "Weibsbilder" befasst. Zum einen wurden textile Bilder und Objekte gezeigt, die berühmte Frauen der Vergangenheit bis zur Gegenwart darstellen und viel Kreativität mit Zeitgeist widerspiegeln. Zum anderen war ein Teil der Ausstellung afghanischen Frauen gewidmet, die Besucher durch den Kauf kleiner Stickquadrate unterstützen konnten. Zudem spendete der Verein den Erlös von selbstgestrickten Werken dem Frauenhaus Dachau. "Die Ideen für die Ausstellungen sind Gemeinschaftswerk", erklärt Pattis. "Jetzt fangen wir gerade an, für unser 20. Jubiläum in zwei Jahren zu planen. Da gibt's auch schon einige Ideen, was wir machen könnten."

Darüber hinaus steht artTextil in engem Kontakt mit der Patchworkgilde Deutschland, die den Dachauer Verein zur Teilnahme an dem internationalen Projekt 70273 angeregt hat. Dieses Kunstprojekt soll an die Morde an vielen Tausender behinderten Menschen erinnern. Aus der Behinderteneinrichtung Schönbrunn nahe Dachau sind nachweislich 207 behinderte Menschen auf Anordnung des NS-Regimes zu Tode gekommen. Um dieser Menschen zu gedenken, haben die artTextil-Frauen gemeinsam Patchwork-Quilts mit 207 Stoffblöcken gefertigt. Auf jeden der Blöcke wurden zwei rote Kreuze genäht, was in den jeweiligen Personalakten der NS-Zeit den sicheren Tod eines Menschen bedeutete.

Insgesamt hat der Vereins bislang sieben Patchwork-Decken fertiggestellt, die von Herbst an im Dachauer Rathaus und im Franziskuswerk Schönbrunn gezeigt werden. Ziel dieser Aktion ist es, aus allen weltweit entstandenen Quilts eine einzige riesige Decke zu gestalten, die die Schicksale von insgesamt 70 273 Ermordeten wieder ins Gedächtnis ruft. Außerdem sind die Dachauer Arbeiten zusammen mit 30 Quilts von der Patchwork Gilde Deutschland von 1. bis 14. September im Ausstellungsraum von "Quilt und Textilkunst" am Sebastiansplatz 4 nahe der Synagoge neben dem Stadtmuseum München zu sehen. Vernissage ist am Samstag, 1. September, um 11 Uhr. Öffnungszeiten der Ausstellung sind Montag bis Freitag 10 bis 18 Uhr und Samstag 10 bis 16 Uhr.

Für Annemarie Pattis ist die Beschäftigung mit Handarbeiten von Kindheit an ihr Lebensinhalt. Dazu kommt "die Gemeinschaft beim Handarbeiten und unser tolles Team". Alle Mitglieder sind ehrenamtlich aktiv. Für die Zukunft von artTextil wünscht sich Pattis, dass sich noch mehr junge Frauen für Handarbeiten begeistern. Birgit Walkowiak hat sich vor 15 Jahren für den Klöppelkurs angemeldet, den sie später nach dem Tod der Kursleiterin selbst übernommen hat. Sie beschäftige sich von Kindheit an mit Handarbeiten, seit vielen Jahren fasziniert sie insbesondere die Klöppeltechnik. Eine faszinierende Handarbeitstechnik sei auch die Gestaltung von Posamentenknöpfen, in dem Walkowiak ebenfalls Kurse gibt. Dabei werden Holzrohlinge in bestimmten Schritten mit unterschiedlichen Farben und Garnen umwickelt, wodurch wunderschöne bunte Knöpfe entstehen.

Seit der Anfangszeit gehört Herta Dachgruber zum festen Stamm-Team von artTextil. Von ihrer Mutter, einer Klöppellehrerin, habe sie die Liebe zu dieser traditionsreichen Technik übernommen. Nach einigen Jahren bei artTextil leitete Dachgruber dann selbst Kinderklöppelkurse. Zudem habe sie eigene Entwürfe in der Klöppeltechnik umgesetzt und bei Ausstellungen präsentiert. Die Beschäftigung mit Klöppeln war für die ehemalige Chefsekretärin "immer ein guter Ausgleich, um abends von den Problemen im Berufsalltag wegzukommen und abschalten zu können".

Von Anfang an dabei ist auch Lydia Pallauf, die gerne stickt und näht, und sich selbst als "Genießerhandarbeiterin" bezeichnet. Handarbeit bedeute für sie auch Kopfarbeit, denn man müsse sich vorher genau Technik, Material und Farbe überlegen, aus dem das spätere "Unikat" entstehen soll. Auf der Suche nach einer sinnvollen Tätigkeit sei sie bei artTextil gelandet, wo man durch gemeinsames Arbeiten immer wieder Spaß habe, wo sie viele nette Frauen kennengelernt habe und wo sich Freundschaften entwickelt haben. "Wir reden gerne miteinander, aber es gibt da noch etwas großes Gemeinsames, das uns alle verbindet."

© SZ vom 30.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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