Anhörung im Landtag:NS-Propaganda am Kiosk?

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Das umstrittene Projekt "Zeitungszeugen" hat eine heikle Frage aufgeworfen: Dürfen Nachdrucke von NS-Propaganda frei verkauft werden? Im Landtag wurde diese Frage nun mit dem Auschwitz-Überlebenden Max Mannheimer diskutiert.

Helmut Zeller

Für den Abgeordneten Karl Freller (CSU), Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, war es ein "historischer Moment". Im bayerischen Landtag hatte der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer gerade davor gewarnt, Nachdrucke von NS-Propagandamaterial für den freien Markt zuzulassen. Mannheimer machte deutlich, dass es bei der Expertenanhörung im Hochschulausschuss nicht nur um wissenschaftliche Fragen geht, sondern um mehr. Das Leben von Juden, Roma und Sinti, die dem aufkeimenden Nazismus in Europa wieder zum Opfer fallen. Der Vizepräsident des Internationalen Dachau-Komitees appellierte an die Politiker: "Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt."

Der Auschwitz-Überlebende Max Mannheimer im Konzentrationslager Dachau - und eine heikle Frage: Sollen Nachdrucke von NS-Propaganda frei verkauft werden dürfen? (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Welt hat sich weitergedreht, und nach einer Woche ist nicht viel geblieben von dem "historischen Moment". Schon damals wirkten die meisten Abgeordneten weniger ergriffen als ratlos. Die Grünen-Fraktion hatte die Anhörung initiiert, nachdem die Sammeledition "Zeitungszeugen" 2009 eine breite Debatte über den Umgang mit NS-Propaganda entfacht hatte. Im Jahr 2015 erlischt das Urheberrecht Bayerns auf Hitlers "Mein Kampf", und damit ist der Weg für Nachdrucke frei. Clemens Lückemann, Generalstaatsanwalt in Bamberg, klärte gleich zu Anfang über die enormen rechtlichen Schwierigkeiten auf. Er plädierte für "Mut im Einzelfall", denn es komme auf Umstände und Form der Verbreitung von NS-Propaganda an.

Mannheimer kommentierte: "Wäre es dann strafbar, wenn das Etikett einer Weinflasche wie in Italien das Bildnis Hitlers zeigt, aber in der Ecke oben ein knapper wissenschaftlicher Kommentar stünde?" In so einem Fall würde der Generalstaatsanwalt zwischen "Mantel und Deckmäntelchen" entscheiden. Diese Frage hatten auch die "Zeitungszeugen" aufgeworfen. Ein Mantelblatt mit historischen Analysen umgibt den Nachdruck von Zeitungen wie dem Völkischen Beobachter. Der Geschichtsdidaktiker Christian Kuchler (Universität Regensburg) hat experimentiert: Die überwiegende Zahl der Schüler zweier Klassen griff nach dem Völkischen Beobachter, der Mantel interessierte nur wenige.

Mannheimer sagte, ihm gehe es um nicht gefestigte Jugendliche. "Niemand wird als Neonazi geboren." Das eben ist für den Grünen-Abgeordneten Sepp Dürr die Frage: Die Wirkung von NS-Propaganda heute. Peter Longerich, Beirat der "Zeitungszeugen" und Historiker am Londoner Research Centre for the Holocaust, erklärte, dass NS-Propaganda haufenweise im Internet zu finden sei und "im heutigen Kontext klein und hässlich" wirke. "Aufklärung ist besser als Verbot", sagte Longerich. Dürr wollte eine "paradigmatische Diskussion" über den Umgang mit solcher Propaganda. CSU und Finanzministerium, das die Urheberrechte verwaltet, müssten nun endlich ein Konzept vorlegen.

"Aus moralischer Sicht degoutant"

Vielleicht unter dem Eindruck des Beitrags von Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Er warf dem "Zeitungszeugen"-Verleger Peter McGee eine "gigantische Marketingkampagne" vor, die den Skandal miteinbezogen habe. 2009 ließ der Freistaat eine Ausgabe der Sammeledition beschlagnahmen, erlitt aber vor Gericht eine Niederlage. Den Verkauf von NS-Propaganda am Kiosk, den "merkantilen Aspekt", lehne er entschieden ab, sagte Mannheimer.

Skriebeleit hielt eine Überraschung bereit: ein Naziplakat aus den "Zeitungszeugen", das im Herbst 1941 während der Judendeportationen aus Deutschland gegen jüdische Bürger hetzte. "Das ist aus moralischer, gedenkstättenpädagogischer und wissenschaftlicher Sicht degoutant." Aber, so die Experten, damals war der Kontext ein anderer. Dürr wollte die Frage klären, an welche Vorurteile Neonazis heute anknüpfen. Vielleicht knüpfen sie auch an Gleichgültigkeit und Unverständnis an: "Wir Deutschen haben den Vorteil, dass wir die Erfahrung des Nationalsozialismus schon hinter uns haben", meinte Thomas Goppel (CSU) beschwichtigend, kurz nach dem "historischen Moment" im Landtag.

© SZ vom 23.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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