Boazn-Gschichten:Des einen Absacker, des anderen Alltag

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Foto: Alessandra Schellnegger (Foto: Alessandra Schellnegger)

Frühmorgens, das letzte Bier nach einer langen Nacht. Und plötzlich sitzt da einer, der hier jeden Morgen sitzt. Und die Kneipe hat ihre Unschuld verloren

Kolumne von Michaela Schwinn

Und plötzlich ist die Stimmung weg. Gerade haben wir eine Runde Bier bestellt, scherzen und grölen in einer Boazn an der Müllerstraße. Cheers, auf das Leben! Die Gläser klirren. Wir tanzen über den klebrigen Boden, betrunken und albern. Draußen geht die Sonne auf. Und da saß er plötzlich: ein älterer Mann mit Lederjacke und fleckiger Jeans, Tränensäcken und Tattoos. Vor ihm ein Helles, neben ihm zwei leere Barhocker. Sein Blick resigniert, abgeklärt - als erwarte er vom Leben nicht mehr, als um acht Uhr morgens in einer Kneipe zu sitzen und zu trinken. Tag um Tag das Gleiche. Ein Leben nach dem Rhythmus des Ausschanks.

Mit einem Mal hatte die Boazn ihre Unschuld verloren. Sie war nicht mehr bloß die schummrige Eckkneipe, in die man schnell auf ein Bier geht. Die gemütliche Absteige, in der ich schon immer viel gelacht und zu viel getrunken habe. An diesem Abend wurde sie zu einem Ort der Einsamkeit. Einem Ort der Verbitterung und Traurigkeit. Die Boazn als Sammelbecken für all jene, die nicht wissen, was sie sonst mit sich anfangen sollen. Wie ein Eindringling, so fühle ich mich in diesem Moment. Ein Eindringling in seiner Welt: Der speckige Tresen ist sein Couchtisch, das Schnapsregal seine Schrankwand. Und die Barfrau seine Familie.

Austauschbar und banal sind diese Dinge für die Feiernden. Was ihnen wichtig ist, ist der Bierpreis. Der Rest geht unter im Lärm der Nacht. Und so ziehen sie von Kneipe zu Kneipe. Rastlos und blind. Auch für mich sind es nur flüchtige Momente der Leichtigkeit, die ich gelegentlich hier erlebe. Für den Mann am Tresen ist es Alltag, die Boazn ist sein Zuhause. Mein Absacker ist sein Morgenritual.

Es ist zehn Uhr. Ich breche auf, nachdenklich, alles dreht sich im Kreis. Der Mann mit Lederjacke bleibt sitzen. Ich blicke zurück. In Boazn ist es wie im echten Leben, überlege ich, Freud und Leid liegen oft sehr nah beieinander.

© SZ vom 12.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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