Bloggen:Was sich jeden Tag verschiebt

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"Wir halten uns alle wacker, irgendwie", schreibt Lena Gorelik am zehnten Tag. Da ist das Virus bereits in ihrem Bekanntenkreis angekommen. (Foto: Catherina Hess)

Die Münchner Schriftstellerin Lena Gorelik schreibt einen "Corona-Blog" über eine verkehrte Welt

Von Antje Weber, München

"Wenn die Welt eine andere wäre, also wenn die Welt so wäre, wie sie es vor kurzem noch war, wenn Corona ein Bier-Wort wäre, oder vielleicht gar kein Wort, dann würden wir alle, dann würde auch ich, dann." Lena Gorelik lässt den Satz abbrechen. Es ist der erste Satz ihres "Corona-Blogs" des dritten Tages, Mittwoch, 18. März, gefühlt eine Ewigkeit her. Doch auch wenn die Welt eine andere ist mit jedem Tag, gilt immer noch: Allzu konkrete Träume von einem "Dann" verkneift sich wohl nicht nur Lena Gorelik.

Die Münchner Schriftstellerin ist eine der Kulturschaffenden, die schnell reagiert haben auf die veränderten Zeiten. Seit dem 16. März setzt sie die Idee eines Krisen-Tagebuchs zusammen mit dem Pathos München um und stellt fast täglich einen neuen Eintrag online. Der Text soll in eine gemeinsame Theaterproduktion für junge Zuschauer einfließen; "Als die Welt rückwärts gehen lernte" heißt der Titel, die Premiere ist für den 20. Mai geplant.

Nach den ersten zehn Einträgen lässt sich festhalten: Lena Gorelik gelingt es gut, den richtigen Ton zu treffen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die 1981 in Leningrad geborene Autorin von Romanen wie "Meine weißen Nächte" bis hin zum Jugendbuch "Mehr Schwarz als Lila" längst einen eigenen Sound entwickelt hat; einen Sound, der hinter einer vermeintlichen Leichtigkeit immer auch die großen Gefühle spüren lässt. Vielleicht lässt sich Gorelik zudem von einem beeindruckenden Tagebuch inspirieren, das sie selbst aus dem Russischen mitübersetzt hat: den Aufzeichnungen Lena Muchinas, vor einigen Jahren unter dem Titel "Lenas Tagebuch" erschienen. Die junge Frau beschrieb so klarsichtig wie bewegend den grauenvollen Hungerwinter 1941/1942, in dem die deutsche Wehrmacht Leningrad belagerte.

Andere Zeiten, wohl wahr, mit gänzlich anderen Herausforderungen. Lena Gorelik erzählt am Tag Eins ihres Blogs zum Beispiel noch von einem Filmabend mit einer Freundin zwei Wochen zuvor, bei dem sie "Outbreak" mit Dustin Hoffmann angeschaut hatten: "Ein skurriles Gefühl, kein beängstigendes, es ist ja alles ein Film." Die Realität holt die Fiktion ein, wird der erkälteten Autorin nun bewusst, "der Film ist jetzt hier", und alles wirkt wie ein großes Rätsel: "Die Sonne scheint, auf diese typisch Münchner Weise, so, als wäre die Welt noch in Ordnung, als machten Viren vor dieser Stadt halt."

Das tun sie natürlich nicht, und auch die Ängste reisen weiter ungehindert durch die Welt. Liest man sich durch Lena Goreliks Blog, möchte man immer wieder ausrufen: "Genau!" Sie schreibt auf, was wohl viele ähnlich erleben: Viel zu früh aufwachen. Sich vornehmen, lieber abends keine Nachrichten mehr zu lesen. Sich komplett überfordert fühlen von drei Mahlzeiten am Tag für die Familie. Die Eltern trösten, deren Hund gerade stirbt, ohne dass sie mit ihm zum Tierarzt fahren können. Den Kindern lauschen, die gerade Herrchen und Bernhardiner spielen, und der Bernhardiner "möchte raus und darf nicht". Und dann erkranken auf einmal tatsächlich die ersten Bekannten am Virus. Bei alldem: "Wir halten uns alle wacker, irgendwie."

Auch wenn die Autorin vor allem den Alltag in einer verkehrten Welt beschreibt: Manchmal mischen sich darunter auch Sätze über die gesellschaftlichen Auswirkungen. Über Menschen, die sich wegen Klopapier schlagen; über rechte Bewegungen, die weiter Hass schüren und in Minderheiten Sündenböcke suchen; über Regierungschefs, die wie in Ungarn den Moment nutzen, um eine Diktatur zu etablieren. Morgen, so schreibt Lena Gorelik am Ende jenes Beitrags, solle die Sonne wieder scheinen, "und wir werden sehen, was sich wieder verschiebt".

Lena Gorelik: Der Corona-Blog , unter www.pathosmuenchen.de

© SZ vom 27.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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