Besonderer Stammtisch:Das große Glückshormon-Gebläse

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"Ein Wahnsinn, gell?" - Seit 40 Jahren begeistert die "Veterinary Street Jazz Band" ihr Publikum mit Musik im New-Orleans-Stil. Die Soli der Veterinäre sind wie ein klingender Kommentar zum Leben

Von Rudolf Neumaier

Jeden Donnerstag! Für eine Mahlzeit und Bier dazu. Für ungefähr 25 Euro Gage oder auch mal 35, wenn's ganz gut läuft. Und für ein Glücksgefühl, das sich mit Geld niemals bezahlen ließe. Sowas kann man nur als Musiker verstehen oder als leidlich durchgeknallter Musikliebhaber. Die Veterinary Street Jazz Band wird in diesem Jahr 40 Jahre alt, und nach einigen Wanderjahren durch die Clubs der Stadt tritt sie Woche für Woche im Wirtshaus zum Isartal auf. Donnerstagabend um acht.

Inzwischen sind es 1302 Konzerte auf der Bühne des Isartal-Saals. Um zu begreifen, wie es möglich ist, dass ein Orchester sein Publikum so lange und immer wieder bei Laune hält, muss man es gesehen und seine Musik gehört haben. Es ist Jazz, wie er vor gut 100 Jahren aus den schwarzen Vierteln von New Orleans über die Welt kam. Ein Jazz, der in der Tiefe seiner Seele melancholisch ist wie eine Mutter, die drei Söhne im Krieg verloren hat, und diese eigene Grundstimmung fortbläst mit der fröhlichen Gewissheit, dass das Leben weitergeht. Spätestens oben im Himmel.

Stefan Frühbeis, 57, ist das letzte Gründungsmitglied in der Band. Sie haben damals als Schüler und Studenten angefangen, als der Jazz gerade noch in Schwabing gefragt war. In der Veterinärstraße gründeten sie sich, daher der Name. Am Klavier saß Frühbeis' Deutschlehrer aus dem Gymnasium Unterhaching. Er selbst kam aus der bairischen Tanzlmusi und blies Blechbass. Wenn er auf der Isartal-Bühne hinten zwischen Banjo und Klavier sein gewaltiges Sousafon mit dem 70-Zentimeter-Schalltrichter abnimmt, um einen Schluck Bier zu nehmen, gleicht das einem mittleren Naturereignis. Wenn er bläst aber auch.

Meistens spielen sie zu acht. Schlagzeug, Klavier, Posaune, Trompete, Banjo, Sousafon und zwei Saxofone beziehungsweise Klarinetten. Am Abend des 1300. Auftritts ist ein Saxofon ausgefallen, doch das kompensieren die anderen locker. "Savoy Blues", "I Can't Give You Anything But Love", der urdüstere Beerdigungsmarsch "St. James Infirmary" - Frühbeis stellt jeden Donnerstag eine neue Setlist zusammen, sie kann sich aber je nach Stimmung ändern. Das Repertoire umfasst Dutzende Stücke, die meisten spielen die "Veterinäre" auswendig. Sie haben die Stücke im Kopf und vor allem: im Bauch.

Musik für Herz und Seele: Die Veterinary Street Jazz Band verwandelt das Wirtshaus zum Isartal in einen New-Orleans-Jazz-Club. (Foto: Robert Haas)

"Veterinäre" - so nennt ihre Fangemeinde die Band. Es gibt überall treue Musik-Abonnenten in München, die Staatsoper hat sie ebenso wie das Philharmonische Orchester im Gasteig. Aber wie viele Abende erleben die in der Saison? Sieben? Zehn? Im Isartal hingegen sitzen sie jeden Donnerstag. Drei Stammtische. Die Monika und der Hannes von der Bühne aus links im Eck, der lange Tisch in der Mitte, der Herr Huber mit seinen Freunden. Der 54er-Bus bringt sie direkt vor die Wirtshaustür an der Ecke Brudermühl-/Schäftlarnstraße. Wenn einer nicht kommt, wird er höchstwahrscheinlich krank sein - so wie es halt auch bei den Musikern ist.

Jeder Stammtisch ist mit einem Holzmännchen markiert, auf dem die Namen stehen. Damit sich die Laufkundschaft auskennt, die den Saal auffüllt. Helma, die Bedienung, kennt die Dauergäste alle, klar. Und am Eingang bezieht die Traudl Posten, die von der Zuhörerin zur Kassiererin avanciert ist, als ihre Vorgängerin wegzog. Stammgäste zahlen sechs Euro. Jeden Donnerstag. Alle anderen acht.

Monika Reichert, 75, und Hannes Eickhorst, 73, hören die Veterinäre seit Anbeginn. Sie kannten die früheren Musiker, und sie kennen die aktuellen. Und das so gut, dass sie über jeden von ihnen einen ausführlichen Bericht für den Rolling Stone schreiben könnten. Der Klavierspieler, "ein Wahnsinn, gell? Er ist Patentanwalt. Martin Seck!" Der Mann am Banjo, der komponiert selbst. Filmmusik, "Der Bulle von Tölz" und jede Menge andere Filme. Der Schlagzeuger - Architekt von Beruf. Die Posaunistin, eine Aushilfe, die von der Musik lebt. Und der Trompeter und der Saxofonist, absolute Vollprofis. Leben ebenfalls von der Musik und für die Musik.

Herr Eickhorst reckt die Daumen. Hätte man nicht selbst eine leise Ahnung von der Begabung dieser Musiker, auf sein Urteil wäre Verlass. Er hat 27 Jahre bei den Hot Lips Posaune gespielt und verfügt über ein ausgezeichnetes Musikgehör. Das Klavier, dieser wunderbare alte Klimperkasten, ist wieder gestimmt worden kurz vor dem 1300. Auftritt der Veterinäre. "Oooooh, es ist höchste Zeit geworden", sagt Herr Eickhorst. Wirtshausluft verhält sich zu Klaviersaiten wie übermäßiger Biergenuss zur Großhirnrinde, irgendwann wird alles ein wenig schräg. Jede Nummer hat ihre Soloparts. Und nach jeder Improvisation der Solisten spendet das Auditorium Applaus. Wer eine Schweinshaxe verspeist oder eine von den gigantischen Portionen Isartal-Schinkennudeln, legt Messer und Gabel beiseite, um zu klatschen. Weniger aus Anstand, mehr vor Begeisterung.

Ein Solo im New-Orleans-Jazz muss man sich wie ein Statement vorstellen. Wie einen Kommentar. Da hat einer was zu sagen. Und Rhetorik funktioniert, ob mit dem Instrument oder mit der Stimme, immer gleich: Man fängt dezent an, steigert das Ganze dezent und hört mit einer Eruption auf. Oder mit einer dezenten Pointe. In der Frontlinie stehen unterschiedliche Typen: Der Trompeter Heinz Dauhrer, 58, treibt's gern ins Ekstatische, um dann wie mit einem Schlag auf den Tisch abzugeben an die Nachbarin an der Posaune.

Marion Dimbath, Jahrgang 1973, kann es auch, und wie! Neben einem Präsenzbrocken wie dem oberbayerischen Alpen-Armstrong Dauhrer die Schüchternheit abzulegen, das allein rechtfertigt einen gereckten Daumen von Herrn Eickhorst. Der Saxofonist und Klarinettist Stephan Reiser, 49, wiederum ist ein Musiker, den man vom Fleck weg beneidet: Weil er dieses alte und für die heutige Jazz-Generation ziemlich überholte Subgenre so interpretiert, dass es ihm und seinen Zuhörern Glückshormone durch die Blutbahnen ballert. Ins Herz. Braucht man mehr zum Leben?

Frau Reichert fände es schön, wenn wieder mehr junge Leute kommen würden zu diesen Konzerten. Weiter vorne an der Straße hat ein neues Studentenwohnheim eröffnet, wer weiß, der Wirt böte ihnen ein für Münchner Verhältnisse ungewöhnliches Preis-Leistungs-Verhältnis. Und diese Musik hat ja damals auch sie selbst bewegt, als sie aus Osnabrück nach München kam, im Jahr 1963.

Die Fans und die Band haben sich in all den Jahren zu einer Symbiose entwickelt. Deswegen hat Uli Kümpfel, 60, auch keine Sekunde gezögert, als sie ihm vor bald 13 Jahren den Platz zwischen dem Sousafon und dem Schlagzeug anboten. Er spielt Banjo, meistens in begleitender Funktion in der Rhythmus-Gruppe. Wenn die Bläser an der Front ihre Solos blasen, schließt Kümpfel die Augen, spielt sein Instrument - und genießt, genießt, genießt. "Jeder Donnerstag ist anders", sagt er, "und ich gehe immer erfüllt nach Hause." Wo kriegt man schon so ein Gefühl und oben drauf noch eine ehrliche Wirtsmahlzeit und eine Anerkennung von 25 Euro dafür? Nur hier.

Als Kümpfels Vorgänger, der Winkler Johnny, starb, spielten sie ihn auf dem Friedhof von Markt Indersdorf zum Grab. "Das war sehr würdig." Es mag jetzt makaber klingen, aber Kümpfel wäre das auch recht, irgendwann einmal. Stefan Frühbeis erinnert sich noch, was sie gespielt haben. "Just a Closer Walk With Thee". Ein Funeralklassiker aus New Orleans. In Indersdorf. Großer Jazz.

Bei Frühbeis klingt das Wort "Jazzen" wie "Katzen", mit "J" statt "K". Radiohörer kennen ihn vom Bayerischen Rundfunk. Er hat Bergsteiger-Sendungen moderiert, heute leitet er mit "BR Heimat" einen ganzen Sender. Ein bayerischer Landler-Experte und New Orleans, wie geht das zusammen? "Wissen Sie", sagt er, "wenn Mozart den Blues gekannt hätte, dann hätte er garantiert weniger Menuette komponiert." Frühbeis moderiert die Konzerte der Veterinäre von seinem Sousafon-Platz aus.

Mein Gott, was hat er nicht schon alles erlebt mit dieser Band. Von 1986 bis 1999 trat sie regelmäßig im Fernsehen auf. Was Helmut Zerlett und seine Musiker in der Harald-Schmidt-Show, das war die Veterinary Street Jazz Band in der Wissenschafts- und Tüftelsendung Knoff-Hoff-Show. Wer sich die alten Youtube-Videos anschaut, sieht eine lustige Combo, die sich mit Vatermörderkragen, Fliege und Weste uniformiert hat. Wie Oberkellner sehen sie aus, und sie machen bei den physikalischen Versuchen jeden Schmarrn mit. Immerhin, den Song "Ain't She Sweet" machten sie als Titelmelodie der in 40 Ländern ausgestrahlten Show populärer, als er durch die Beatles geworden war. Heute würde dieses lustige Format nicht mehr zu den Veterinären passen. Und umgekehrt. Jazz ist kein Gaudiburschen-Getute, sondern Seelensache. Auch New-Orleans-Jazz, der mit seiner fatalistischen Zuversicht so viele Endorphine freisetzt wie Sonnenstrahlen Vitamine spenden.

Hart ist der Winter und mühselig des Tages Last. Doch das Leben geht mit dem nächsten Solo weiter, und nach einem Veterinäre-Konzert fühlt es sich so grandios an wie am Donnerstag zuvor.

© SZ vom 03.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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