Stillstand auf der Schiene:"Wartet nur, bis wirklich gestreikt wird"

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Kein Zug in Sicht, kein Hoffnungszeichen auf dem Handydisplay: Wartende am Montagmorgen am Münchner Hauptbahnhof. (Foto: Christof Stache/afp)

Störungen im Nahverkehr sind die Münchner zwar gewohnt, doch was sie am Montag im morgendlichen Berufsverkehr erdulden müssen, übersteigt das gewohnte Ausmaß deutlich.

Von SZ-Autoren

Das ältere Ehepaar, das um neun Uhr morgens vor dem Hauptbahnhof Schlange steht, nimmt die Umstände gelassen. Die beiden wollen um 13.25 Uhr nach Paris fliegen. "Da haben wir noch viel Zeit." Die Schlange, die nur so langsam kürzer wird, wartet darauf, vom Flughafenexpress der Lufthansa geschluckt zu werden. Der ist bis kurz vor halb zehn die einzige Möglichkeit, vom Hauptbahnhof aus den Airport zu erreichen. Und immerhin: Es regnet nicht. Etwa eine Stunde haben diejenigen, die in der Schlange ganz vorne stehen, schon gewartet. Der Airport-Express fährt nur alle 15 Minuten. Die Passagiere ertragen es jedoch meist gelassen, Tenor: Man habe sich wegen des Streiks der Eisenbahnergewerkschaft EVG auf eine längere Anreise zum Airport eingerichtet. Den Leuten bleibt auch nichts anderes übrig, als gelassen zu bleiben. Taxis treffen am Bahnhofsvorplatz an der Arnulfstraße nur sporadisch ein und sind schnell von einer Menschentraube umringt. Kurze Diskussionen entspinnen sich, wer das Taxi nun dringender brauche, der Mann im Business-Anzug oder die Oma mit der Katzenbox aus Plastik im Arm. Aber die Leute einigen sich - lautere Streits oder gar Gewalt bleiben aus.

An Störungen im öffentlichen Nahverkehr sind die Münchner zwar gewohnt. Dennoch trifft der Warnstreik der EVG hunderttausende Pendler am Montag ungewöhnlich hart. Dass der Münchner Airport im Erdinger Moos stundenlang komplett von der Schiene abgeschnitten ist, kommt auch nicht häufig vor. Als gegen 9.20 Uhr am überfüllten S-Bahnsteig des Hauptbahnhofs eine S1 Richtung Flughafen einfährt, geht ein zufriedenes Raunen durch die Menge. Es geht wieder was! Und die Männer und Frauen in den gelben Westen, die am Bahnsteig die Fahrgastströme im Zaum halten sollen, haben plötzlich alle Hände voll zu tun.

Oben in der Wartehalle des Hauptbahnhofs stehen die Leute vor den Anzeigetafeln und hoffen, dass sie irgendwann einen Regional- oder Fernzug erwischen. Durchsagen gibt es quasi pausenlos. Auch hier eher gelassene Stimmung, nur ein ergrauter Mann im schwarzen Mantel scheint inzwischen die Nerven verloren zu haben. "Das hier ist nur ein Warnstreik, wartet nur, bis richtig gestreikt wird", ruft er in die Menge - und man ist sich dabei nicht ganz sicher, ob er sich vielleicht nur lustig machen will über die gestrandeten Pendler. Aber richtig wahrgenommen wird er von denen ohnehin nicht. Durchsagen, dass nun doch bald ein Regionalzug nach Nürnberg geht und unter anderem auch in Dachau hält, sind an Tagen wie diesem durchaus spannender.

Der Streik legt das gesamte S-Bahn-Netz lahm. Auch nach Streikende kommt es immer noch zu massiven Verspätungen und Zugausfällen. Kurz nach 9 Uhr steht auf den zahlreichen Anzeigetafeln am Marienplatz die Nachricht, dass der Streik beendet wurde. Jedoch zeigt keine von ihnen an, welcher Zug als nächstes kommt. Nur wer Glück hat, bekommt eine der wenigen Ansagen mit. Um Viertel nach 9 kommt die erste Bahn nach dem Streik, die Fahrgäste drängen sich in die Abteile. Doch dann fährt die Bahn nicht los. Durchsage: "Die Weiterfahrt verzögert sich um zwei bis drei Minuten, weil das Gleis vor uns noch belegt ist." Eine Frau in der Bahn schaut ratlos, lacht dann und fragt: "Wie das denn? Hier ist doch seit Ewigkeiten nichts mehr gefahren." Wohin also? Ins Taxi? Die sind am Vormittag nicht nur am Hauptbahnhof rar, sondern in der ganzen Stadt nicht zu bekommen. Die Zentrale von Taxi München hat eine Bandansage geschaltet, die Anrufern lapidar mitteilt: "Wegen eines Streiks bei der Bahn gibt es momentan keine freien Taxis." Nach einem Hinweis auf die "sehr langen Wartezeiten" folgt eine Bitte um Verständnis, dann endet die Ansage, die Verbindung wird unterbrochen. Taxis für einen späteren Zeitpunkt zu bestellen, ist nicht möglich. Fahrzeuge von Uber zu ordern oder Leihwagen von Drive Now und anderen Car-Sharing-Anbietern zu mieten, erweist sich gleichermaßen als schwierig.

Die U-Bahnen, Trambahnen und Busse der Münchner Verkehrsgesellschaft sind überfüllt. Passagiere berichten, dass sie im Bus von Radfahrern und selbst von Fußgängern überholt worden seien. Ein Fahrgast stoppt auf der Uhr zehn Minuten für die 300 Meter lange Strecke von einer Haltestelle zur nächsten. Etliche U-Bahn-Züge der U4 und U5 sind schon beim Start am Laimer Platz im Münchner Westen gesteckt voll. Die Linien durchqueren die Stadt von West nach Ost und gelten deshalb als Pendler-Alternative bei Stammstreckenstörungen. Das ist auch nach 9 Uhr noch so. Doch auch bei der städtischen U-Bahn läuft an diesem Morgen nicht alles rund. Eine Weichenstörung am Laimer Platz produziert Behinderungen auf der so wichtigen Ausweichroute. Von der Linie U 3 meldet die Münchner Verkehrsgesellschaft, dass "nicht alle planmäßigen Züge im Einsatz" seien. Das macht die Lage auch nicht besser.

Fein raus sind am Montag die Radler, die auch dem Winterwetter und Regen trotzen. Sie müssen nicht im Stau stehen, wie Pendler, die statt in den Zug nun ins eigene Auto stiegen. "Der Mittlere Ring ist voll", heißt es in der Verkehrszentrale der Münchner Polizei, auch die anderen Straßen sind überlastet. Viele Strecken haben sich an diesem Montag früher gefüllt als sonst. Vor allem an den Einfallstraßen, etwa dem Ende der A 9, der A 94 und der A 995 stehen Autofahrer am Morgen lange im Stau. Auch die von Richtung Garmisch kommenden Autofahrer müssen sich vor der Einfahrt zum Luise-Kiesselbach-Tunnel in Geduld üben, während der stadtauswärts fließende Verkehr, naja, tatsächlich fließt - Auspendlerglück. Die Autobahndirektion Südbayern sieht das Verkehrsaufkommen als ungewöhnlich groß an, was im Übrigen ganz Bayern betreffe. Doch vor allem auf den Autobahnen im Großraum München seien die Auswirkungen des Streiks am Morgen deutlich zu spüren gewesen, sagt der Sprecher der Autobahndirektion Süd, Josef Seebacher: "Wir hatten deutlich mehr Rückstaus als ohnehin schon an normalen Tagen üblich." Auch der Navi-Hersteller TomTom registriert zwischen acht und neun Uhr ein doppelt so hohes Verkehrsaufkommen wie normal. Der Stau gehört allerdings schon so sehr zu München, dass er nicht mehr als außergewöhnlich wahrgenommen wird. "Das war ein absolut normaler Montagmorgen", sagt Polizeisprecher Peter Werthmann.

Dass außergewöhnliche Vorfälle ausbleiben und der Stau nicht zum Verkehrschaos wird, ist wohl auch den Münchnern zu verdanken, die nicht von der Bahn aufs Auto ausgewichen sind, sondern einen Tag im Home-Office eingelegt haben.

© SZ vom 11.12.2018 / anh, anl, bm, ebri, cck, her, schub, sim - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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