Auferstehung im Krankenhaus:"Der Tod kam für mich nicht in Frage"

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Gehirnblutung, Herztransplantation: Fünf Mal kämpften die Ärzte um das Leben von Jörg Przybilla. Der mühsame Weg der Auferstehung.

Bernd Kastner

Es hat klick gemacht, ganz leise. Klick. Klick. Sachte und stetig. Es gehörte zum Leben von Jörg Przybilla, und er hat es gar nicht mehr wahrgenommen. Bis irgendwann, das ist an die zehn Jahre her, der Rhythmus durcheinander geriet. Klicklicklicklick. Dann nichts, lange nichts. Das Geräusch kam von einer künstlichen Klappe in seinem Herzen, und dieses Herz war aus dem Takt. Przybillas altes Leben begann zu stottern, da war er Mitte vierzig. Heute schlägt ein neues Herz in seiner Brust.

Sein Herz war aus dem Takt, sein Leben ins Stolpern geraten. Jetzt schaut Jörg Przybilla wieder voller Lebensmut in die Zukunft. (Foto: Foto: Haas)

Jörg Przybilla, geboren 1952 im schleswig-holsteinischen Itzehoe, ist mit einem Loch in der Herzscheidewand zur Welt gekommen. Er ist schon in der Schule, als die Ärzte das feststellen. Mit elf muss Jörg nach Hamburg zur Katheteruntersuchung am Herzen. Ein Jahr später schließt ein Göttinger Professor das Loch. "Dann war alles gut", sagt Przybilla. Er lebt ein normales Leben, treibt Sport, lernt Bankkaufmann, studiert.

Er ist 28, als die Ärzte eine Herzinnenhautentzündung feststellen. Przybilla liegt ein Vierteljahr im Krankenhaus, er bekommt eine künstliche Aortaklappe, und die ist es, die fortan leise klick macht. "Dann war wieder alles gut", erzählt Przybilla und amüsiert sich, dass manchmal die Leute neben ihm irritiert auf ihre Uhr schauten und dachten, sie tickt nicht richtig. "Doch ich konnte wieder völlig normal leben."

Wobei für Przybilla ein normales Leben ist, was für viele andere ein Leidensweg wäre. Er sagt zum Beispiel: "Richtig schwer krank war ich eigentlich nie." So etwas kann nur einer sagen, der die Gabe besitzt, das Positive im Gedächtnis zu behalten, und all die Unbill schnell zu vergessen. Er ist routiniert im Erzählen seines Lebenswegs, und es schwingt auch ein wenig Stolz mit in seinen Worten.

Stolz, es geschafft zu haben. Später, als er dem Fotografen zuliebe eine Feuertreppe am Bürohaus seiner Firma nach oben steigt, dem Himmel entgegen, wird er sagen, dass er mal nachgezählt habe, und da sei er auf fünf Mal gekommen. So oft habe der Tod ihn holen wollen, aber er ist nicht mitgegangen.

Przybilla ist dreißig, und alles ist in Ordnung. Er zieht nach Nordrhein-Westfalen, engagiert sich in der FDP, kandidiert für den Landtag, zieht dann wegen des Jobs nach München, geht als Banker zu einer Leasingfirma. Klick, klick, sein Leben ist im Takt.

Als er das mechanische Geräusch wieder wahrnimmt, heißt das nichts Gutes. Er ist Mitte vierzig, seine Leistungsfähigkeit nimmt rapide ab, das Tennisspielen geht nicht mehr recht, er schläft immer schlechter, verliert zwischendurch das Bewusstsein, wenn der Puls plötzlich auf 200 hochschnellt. Und wenn er vom Keller in seine Wohnung im ersten Stock will, muss er nach zehn Stufen Pause machen.

Nur noch abwärts

Es geht nur noch abwärts auf der Lebenstreppe des Jörg Przybilla. Einmal, er ist zu Hause, wird ihm übel und schwindelig, auf dem Weg ins Klo wird er ohnmächtig, prallt mit der Stirn gegen den Türstock, dann mit dem Hinterkopf auf das Parkett. Er rappelt sich auf, geht mit einer dicken Beule in die Arbeit.

Drei Wochen später, bei einer ohnehin geplanten Herzuntersuchung, redet Przybilla wirres Zeug. Die Ärzte stutzen, schieben ihn in den Computertomographen, heraus kommt er mit der Diagnose Hirnblutung. Folge des Sturzes. Wäre er nicht zufällig in der Klinik gewesen, er hätte nicht überlebt. So operieren sie ihn gleich in Großhadern, bekommen auch eine Nachblutung in den Griff, aber in Ordnung ist nichts mehr. Klicklicklick.

Jörg Przybilla ist innerhalb weniger Monate dick geworden, 110 Kilo wiegt er. Weil die Pumpe nicht mehr richtig pumpt, hat sein Körper Wasser angesetzt. "Jede Bewegung ist mir schwer gefallen." In dieser Zeit habe er sich immer wieder gefragt, was dieses Leben noch wert sei. Im Dezember 2004 eröffnen ihm die Ärzte, dass seine rechte Herzkammer "völlig ausgeleiert" sei, der Herzchirurg Bruno Reichart rät zur Transplantation.

"Hätte ich nicht zugestimmt", sagt der Patient, "ich hätte nur noch ein paar Monate gehabt." Er hätte hadern können, "Mein Gott, warum gerade ich?", aber das habe er nie. Und Gedanken ans Ende? "Tod - nee, das gab's für mich nicht, das kam für mich nicht in Frage."

Am 7. Januar 2005 setzen sie seinen Namen auf die Liste des Transplantationsnetzwerks Eurotransplant, ganz oben, "high urgent". Przybilla verlässt das Krankenhaus nicht mehr, seine Partnerin ist fast täglich bei ihm. Er regelt mit ihr, was er eigentlich nicht für nötig hält, weil er sicher ist, durchzukommen. Beerdigung, Patientenverfügung, sie sollen die Geräte abstellen, wenn er nicht mehr zurückkommen kann in ein menschenwürdiges Leben. Er zieht so etwas wie Bilanz seines Lebens, und er ist zufrieden.

Am Abend des 16. Februar, es ist schon spät, klopft es an seiner Zimmertür, ein Arzt fragt, wie es ihm gehe.

Danke, wieder ganz ordentlich.

Das ist gut. Wir haben nämlich ein Herz für Sie.

Przybilla lacht, als er das erzählt: "Da rutschte mir das alte Herz in die Hose." Wochenlang hatte er gewartet, und nun, da es ihm scheinbar besser geht - Zweifel, Sekunden des inneren Dialogs. "Machst du das jetzt?"

Muss ich mich gleich entscheiden?, fragt er den Arzt. Es ist zehn Uhr.

Ja, jetzt gleich.

Und wenn ich nein sage?

Dann kriegt das Herz ein anderer.

Jörg Przybilla sagt ja.

Um halb elf schieben sie ihn in den OP. Auf dem Weg dorthin, die Narkose beginnt schon langsam, läuft ein kleiner Film in seinem Kopf ab, sein Leben, kurz, gerafft. Dann wird es dunkel.

Eine sehr kleine Welt

Als er am übernächsten Tag erwacht, ist es wie an einem Frühlingsmorgen in der Natur. Dichter Nebel zuerst, langsam wird das Grau zum Weiß, dann bricht die Sonne durch, der Himmel wird heller, wird blau. Der Patient sieht Schwestern um sich herum, "da wusste ich, dass ich noch auf der Erde bin." Sehr klein ist Przybillas Welt jetzt, um ihn herum hängen Schläuche, Infusionen, Blut, hier rein, dort raus. Seine Partnerin steht am Bett, er erkennt sie nur an den Augen, der Rest ist verhüllt, Infektionsgefahr.

Vor sich, auf den Besprechungstisch in seiner Firma, hat Przybilla zwei DVDs gelegt: Filme, in denen er seine Geschichte erzählt, um anderen Mut zu machen. Auf einem Cover ist ein junger Mann zu sehen, auch er hat ein Herz bekommen, aber er ist nicht mehr aufgewacht aus dem künstlichen Koma. Er hatte zu lange warten müssen. Przybilla will werben, dass mehr Menschen nach dem Tod Organe spenden. Er selbst hat auch einen Spenderausweis, "vielleicht kann man ja noch was gebrauchen".

Nach der Transplantation denkt er, er hat es geschafft, und beginnt, die Treppe wieder nach oben zu steigen. Stufe um Stufe: der erste Schluck, das erste Sitzen an der Bettkante, das erste Essen von draußen, ein Hendl, erste Schritte auf dem Flur. Vom Spender seines neuen Herzens erfährt er nur, dass er sehr sportlich war und Nichtraucher. Mehr Wissen verbieten die Vorschriften, man will vermeiden, dass sich Spenderfamilie und Empfänger näher kommen, will seelische Verletzungen verhindern. Przybilla sagt, das sei auch gut so. Und er sagt, er und sein neues Herz seien sofort eins geworden.

In den Wochen darauf aber gerät sein Leben erneut ins Stolpern, er stürzt wieder ein paar Stufen nach unten. Die Nieren versagen, er muss für zwei Wochen an die Dialyse. Bedingt durch die Medikamente steigen seine Zuckerwerte. Er hat Lähmungserscheinungen, kann gerade noch den Notarzt rufen. In der Klinik stehen wieder alle Ärzte um ihn herum, sie wollen den Zucker messen, aber er ist nicht messbar, weil zu hoch. "Das führt in der Regel zum Tod", sagt er. Wenig später plagen ihn Bauchkrämpfe, es sind die Gallensteine. Die nächste OP.

Und dann - nichts mehr.

Seit knapp vier Jahren nun verläuft alles nach Plan. Ende 2005, nach elf Monaten, kehrt er ins Büro zurück, dann auf den Tennisplatz, aufs Fahrrad. Gewiss, er muss viele Medikamente nehmen, damit sein Körper das neue Organ nicht doch noch abstößt, muss alle paar Wochen das Blut checken lassen, verzichtet auf Fernreisen, kauft fast nur abgepackte Lebensmittel und trägt im Sommer einen Hut, weil sein Hautkrebsrisiko um 300 Prozent höher ist als normal. Aber sich beim lieben Gott zu beschweren, er käme nicht auf die Idee. "Ich lebe immer im Jetzt", sagt er, "und ich genieße das jeden Tag." Er hört kein Klicklicklick mehr, es ist ganz ruhig, sein neues Herz.

© SZ vom 11.04.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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