SZ-Serie: Bühne? Frei!:Auf Verse vertrauen

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Kultur-Lockdown, Tag 110: Der Lyriker hält sich fest an der Poesie

Gastbeitrag von Anton G. Leitner

Im Rückblick betrachte ich es als kleines Wunder, dass ich über ein Vierteljahrhundert täglich meiner liebsten Beschäftigung nachgehen konnte, dem Verfassen, Edieren, Verlegen und Rezitieren von Poesie. Als ich 1992 dafür das juristische Beamtendasein aufgab, war mir klar, dass eine freie Existenz als Realpoet und Lyrikvermittler auch finstere Momente bergen würde, fernab jeder materiellen Sicherheit. Aber ich bin überzeugt davon, dass man eine vitale und relevante Literatur nur produzieren kann, wenn man als Künstler ohne Netz und doppelten Boden unterwegs ist.

Wie schnell alles anders kommen kann, erlebte ich Anfang 2018, als ich trotz Grippe eine Veranstaltung bestritt, weil ich mir deren Absage finanziell nicht hätte leisten können. Die Quittung dafür erhielt ich in Form einer doppelseitigen Lungenembolie. Geschockt änderte ich radikal meine Lebensführung, vielleicht zu radikal, jedenfalls erlitt ich exakt ein Jahr später nach einer Lesung im Frühjahr 2019 in Karlsruhe einen Herzinfarkt und brauchte fast ein Jahr, um mich davon zu erholen. 2020 endlich fühlte ich mich wieder so, als ob ich Bäume ausreißen könnte. Doch auf einmal schien die ganze Welt um mich herum krank zu werden. Weil Jammern auch nicht weiterhilft, trat ich dieser neuen Bedrohung mit den Mitteln der Poesie entgegen. Von Tag eins des ersten Lockdowns an startete auf dasgedichtblog.de, dem Onlineforum meiner Zeitschrift "Das Gedicht", die Netz-Serie "Lockdown-Lyrik". Inzwischen läuft die 2.0-Version dieser internationalen Anthologie zur Pandemie, und es scheint, als ob wir sie aufgrund der derzeitigen Politik nach 250 veröffentlichten Gedichten endlos fortsetzen könnten.

Die erneute Absage all meiner Veranstaltungen 2020 und 2021 konnte ich nur noch verkraften, indem ich in der Krise sprichwörtlich die Chance suchte. Also nutzte ich die lesungs- und seminarfreie Zeit fürs Schreiben. Selten bin ich in so einen kreativen Rausch geraten wie bei der Arbeit an meinem Gedichtband "Wadlbeissn". Auf Bairisch und Hochdeutsch soll er zu meinem 60. Geburtstag am 16. Juni 2021 im Münchner Volk Verlag erscheinen: lyrisch spitz, mit Witz. Was die Kreativität betrifft, so konnte ich mir selbst helfen. Wirtschaftlich sieht die Sache anders aus, denn nach der allerersten Corona-Hilfe hat mich der Staat in der Krise allein gelassen. Dass ich keinen Anspruch auf weitere Hilfen habe, liegt daran, dass mein Krankheitsjahr 2019 als Referenzjahr zum Vergleich mit dem Umsatz von 2020 herangezogen wird. Aber Härtefälle bleiben in schnellgestrickten Regelwerken unberücksichtigt. Ohne die Hilfe der Familie, meiner Leserinnen und Leser und vieler Freunde, die mich schon in den Krankenmonaten unterstützt hatten, gäbe es meine Zeitschrift "Das Gedicht" nicht mehr. "Poesie rettet den Tag" lautet seit über 40 Jahren mein Lebensmotto, und wenn ich das alles überlebe, was ich (noch immer ungeimpft) erlebe, hat es sich einmal mehr bewahrheitet.

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© SZ vom 19.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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