Ärzte im Wiesn-Einsatz:Der Reparaturbetrieb

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Hühnerknochen in Hälsen, aufgeschnittene Füße und jede Menge Volltrunkene: Das ist Alltag in der Oktoberfest-Notfallzentrale des Roten Kreuzes.

Christina Warta

Die junge Frau sitzt zusammengesunken in einer Kabine der Damentoilette, ihre Stirn auf die Knie gedrückt, neben ihrem rechten Fuß steht ein roter Eimer. Es war nicht ganz einfach, hierherzukommen.

Wenn das Gehen nicht mehr geht kommen die Sanitäter und transportieren die alkoholisierten Patienten. (Foto: Foto: Robert Haas)

Nicht für sie, die nach sechs Maß Bier irgendwie noch den Weg zum Klo gefunden hat, bevor sie hier zusammengebrochen ist. Und nicht für die Sanitäter, die mit ihrer Fahrtrage gleich vor der Tür anhalten werden.

Jürgen Lang ist eigentlich ein ruhiger Mensch, normalerweise unterrichtet er an einem Gymnasium in Pfaffenhofen Mathematik und Physik. Jetzt steht er vor dem Bierzelteingang, wo die Menschen warten und nicht bereit sind, auch nur einen Schritt zur Seite zu tun - und er wird laut.

"Jetz' geh' auf d'Seiten", ruft er einem Mann ins Gesicht. Der schaut erst verständnislos, dann endlich sieht er die roten Jacken der Sanitäter, die lange Trage - und macht Platz.

Spießrutenlauf durchs Zelt

Der Weg durch das Bierzelt dauert nur zwei oder drei Minuten, doch es kommt einem zehnmal so lange vor. Die Party ist in vollem Gange, die Kapelle spielt das WM-Lied der Sportfreunde Stiller, die Menschen stehen auf den Bierbänken, recken die Arme nach oben und plärren: "Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein werden wir Weltmeister sein."

Jürgen Lang geht seinem Team voran, Natalie Wolf, Karoline Hufnagl und Elmar Wenisch drängen mit der Trage hinterher. Lang schiebt die Feiernden und die Bierkrüge beiseite, überholt Bedienungen mit Tabletts voller Hendl und drängt eine eifrige T-Shirt-Verkäuferin weg. "Derf i mitfahrn?", schreit einer, schwankt hin und her und schaut sich beifallheischend zu seinen Freunden um.

Andere deuten wortlos auf die Trage mit der signalgelben Hülle. "Liegt do oana drin?", fragt ein dritter und lacht irre. Es ist gerade mal 19.30 Uhr, doch an diesem verregneten, kühlen Abend und in diesem Bierzelt dürfte der Anteil der Nüchternen eher im einstelligen Prozentbereich angesiedelt sein.

Ein riesiges, gut organisiertes Besäufnis

In den Bierzelten an der Wirtsbudenstraße ist die Wiesn vor allem eines: ein riesiges, gut organisiertes Besäufnis. Deshalb können all die fröhlichen und weniger fröhlichen Zecher dankbar sein, dass es hinter dem Schottenhamel-Zelt die Hauptsanitätsstation des Münchner Roten Kreuzes gibt: ein medizinisches Notfall-Zentrum, in dem Rettungssanitäter auf den Alarm warten und schmale Betten zur Ausnüchterung sowie kleine Behandlungsboxen für die Erstversorgung zur Verfügung stehen. 7800 Patienten wurden 2007 hier versorgt, 9600 im Jahr davor. 2008 waren es bislang 3117.

Die Notfallzentrale am westlichen Wiesnrand ist so etwas wie der vernünftige Gegenentwurf zum rauschigen Oktoberfest. Hier wird kein Bier getrunken, hier sind alle nüchtern. Rund 1500 ehrenamtliche Rotkreuz-Helfer und 200 ehrenamtliche Ärzte kommen während der Wiesn zum Einsatz, sie warten nur darauf, dass nebenan wieder einer zusammenklappt.

Und sie sind erstaunlich milde gestimmt gegenüber jenen, die irgendwann hier angeliefert werden, die nicht mehr sprechen können und oft auch nicht mehr stehen. "Patienten" heißen sie hier oder "Alkoholisierte", nie jedoch "Bierleichen". Hier bekommen die Lallenden ein bisschen Würde zurück.

Und auch an diesem Tag geht es in der Notfallzentrale rund - das heißt: Es geht eben nicht mehr rund. Die 15 Betten im Ausnüchterungszimmer, das sie netterweise Überwachungsraum nennen, sind gegen 17 Uhr schon recht gefragt.

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L. Sonnabend und A. Fischhaber

Bewegungslos niedergestreckt liegen Männer und Frauen unter Wärmedecken, manchen hat man ein kleines Kartonschälchen unter den Mund geklemmt. In der Luft hängt ein süßlicher Geruch, medizinische Geräte piepsen, es ist heiß. "Die Patienten kühlen schnell aus", erklärt Christian Binner, "Alkohol weitet die Gefäße."

Deshalb werden sogar die Infusionen angewärmt. Die meisten Gäste sind unter 25, ein Drittel ist weiblich. Bisher hat das Rote Kreuz hier im Ausnüchterungszimmer 321 Leute versorgt.

Der Herzchirurg aus Leipzig nimmt sich jedes Jahr zwei Wochen Urlaub, um auf der Wiesn zu arbeiten. Diesmal hat Binner außerdem einen 200.000 Euro teuren Gerätepark mitgebracht. "Das könnten wir uns nie leisten", sagt Sprecher Gisbert Frühauf.

"Ich spür' mein Bein nicht mehr ab hier"

So aber kann Binner in wenigen Minuten allerlei Laborwerte bestimmen. Beispielsweise bei einem jungen Mann, der zuvor bewegungslos im strömenden Regen in einem Biergarten gefunden wurde - er hat eben Herzrhythmusstörungen bekommen.

Im Raum daneben geht es eher, nun ja, blutig zu. In einer der sechs Behandlungsboxen landet jeder, der nicht einfach nur betrunken ist. Eine Frau ist gestürzt, "ich spür' mein Bein nicht mehr ab hier", sagt sie und deutet auf ihren Oberschenkel.

Während sie ein Arzt untersucht, drückt sie sich das Handy ans Ohr, um Freunden von ihrem Unglück zu berichten. Nebenan sitzt ein Mittdreißiger mit weißem Trachtenhemd, Lederhose und Haferlschuhen - alles voller Blut.

Er trägt einen Kopfverband, auch dieser ist vollgesogen mit Blut. "Ich kann mich nur noch erinnern, wie einer gesagt hat: Tut mir leid, ich kann nix dafür", berichtet er. Ein Maßkrug wurde auf seinem Schädel zerschmettert, die Schnittwunde ist nicht nur lang, sondern auch tief. "Das muss man nähen", sagt Arzt Ulrich Hölzenbein, "und morgen ham'S an schweren Kopf, aber nicht vom Bier."

Nebenan öffnet sich der Vorhang der dritten Box. Unauffällig versucht ein junges Mädchen, sich auf wackeligen Beinen aus dem Raum zu stehlen, doch es gelingt ihr nicht ganz. Zu krass ist der Gegensatz zwischen ihrem aufreizenden Dirndl und dem aufgeschürften Gesicht.

Sie ist gestürzt, nun trägt sie über der Nase ein Pflaster im Gesicht und sieht auch sonst böse aus. Den Tränen nahe wankt sie auf hohen Hacken zum Ausgang. "Ich glaube, die will jetzt nicht mehr feiern", sagt einer der Sanitäter trocken.

Wiesn statt Afghanistan

Die Statistik des Roten Kreuzes unterscheidet zwischen Betrunkenen, Verletzten oder anderen, beispielsweise Herz-Kreislauf-Patienten. Trotzdem: "Die meisten Patienten haben Alkohol getrunken", sagt Eduard Oks, "aber wir behandeln sie nicht unbedingt deshalb."

Oks ist bei der Bundeswehr, der Mediziner arbeitet auch in Afghanistan und baut seinen Resturlaub hier ab. "Das Oktoberfest ist eine Abwechslung", sagt er, "man kommt aus dem monotonen Alltag heraus." Hier entfernt er Hühnerknochen und Fischgräten aus Hälsen oder Glassplitter aus Gesäßen, er kümmert sich um Herzkranke oder Alkoholisierte.

Im hintersten Zimmer der Zentrale ist es am stillsten. Dr. Wolfgang Weise sitzt an einem schmalen Operationstisch und liest passenderweise in einem Buch des Überlebenskünstlers Rüdiger Nehberg. 2003 hat Weise seine Praxis verkauft, doch der Ruhestand war ihm dann doch zu ruhig.

Nun ist er zum sechsten Mal auf der Wiesn, in 16 Tagen operiert er gemeinsam mit einem Kollegen rund 800 Patienten. "Wir haben Platzwunden, Schnittwunden und Sehnenverletzungen", erklärt er, "außerdem Australierinnen und Neuseeländerinnen, die gerne Flipflops tragen und sich die Füße aufschneiden."

Früher mussten all diese Fälle ins Krankenhaus transportiert werden - dank des Mini-OPs auf der Wiesn ist die Behandlung nicht nur schneller, sondern auch günstiger. "Und manche gehen direkt danach wieder feiern", sagt Weise. Oder arbeiten: Weise behandelt auch Kellnerinnen, Hendlbrater und Maßkrugwäscher. "Die wollen schnell wieder zurück, Geld verdienen", sagt der Arzt.

Auch die unerschütterlich fröhliche Bedienung aus dem Hippodrom, die mit Tellern in der Hand ausgerutscht ist und schon bald mit aufgeschnittenem, blutig verschmiertem Handballen vor Weise stehen wird, will am liebsten gleich wieder zurück - ins Zelt.

Im Vorraum gibt es plötzlich Geräusche: Ein Mann, etwa 50 und mit Tätowierungen auf dem Unterarm, hat sich offenbar selbst eingeliefert, er hängt schräg auf einem Stuhl, hat einen Filzhut in der Hand und Leere in den Augen. "Guten Abend, ich bin der Notarzt", sagt der Notarzt. Der Mann kann nicht mehr deutlich sprechen, er lallt seinen Namen.

Er ist aufmüpfig, "die mittelstark Betrunkenen sind die schwierigsten", sagt der Arzt hinterher. Trotzdem schaffen es die Sanitäter, ihn in den Ausnüchterungsraum zu bugsieren - was auch damit zu tun hat, dass sich der Mann nicht mehr auf seinen Beinen halten kann, sondern geschleift werden muss.

Fünf Minuten später knallt die Tür des Überwachungsraums an die Wand, alle schrecken hoch. Aufrecht steht der Mann wieder im Türrahmen, er hat seinen Hut auf dem Kopf und schreit: "Wo geht's 'n da 'naus?" Eine Ärztin späht um die Ecke und sagt: "Oh, eine Spontanheilung." Im Fachjargon wird das hier "flüchtiger Patient" genannt - "wir können natürlich niemanden zwingen, hierzubleiben", sagt Gisbert Frühauf. Muss auch nicht sein: "Der kommt heute noch mal wieder", sagt der Notarzt.

Und gleich wird auch das junge Mädchen von der Damentoilette angeliefert werden. Mit vereinten Kräften heben die Sanitäter sie auf die Trage. Ihre Schwester weint hysterisch, auch sie ist nicht nüchtern, und ein junger Mann beteuert hektisch, dass die Frau schon betrunken gewesen sei, als er sie kennengelernt habe.

Betrieb geht weiter während irgendwo einer zusammenbricht

Das Team um Lang bleibt ruhig, während ein paar tausend Menschen im Hintergrund "Rosamunde" singen und die Damen aus der Schlange zum WC interessiert herüberschauen. Auch das ist die Wiesn: dass der Betrieb weitergeht, die Musik und das Trinken, während irgendwo einer zusammenbricht und vielleicht um sein Leben ringt. "Ich hab schon unter dem Biertisch reanimiert, während um mich herum alle auf den Bänken getanzt haben", sagt ein Arzt.

Natalie Wolf misst den Puls der Betrunkenen. Sie will Ärztin werden, Tragenfahrer Wenisch ist im normalen Leben Landschaftsökologe, Karoline Hufnagl ist Schülerin. Die vier kennen sich von der Rot-Kreuz-Bereitschaft Trudering. "Man kann sich hier bewähren", sagt Karoline Hufnagl nüchtern, "man lernt viel." Wenn Männer aggressiv reagieren, gehen meist die Frauen vor: "Das ist oft besser", sagt Natalie Wolf.

Zum Beispiel bei dem jungen Australier, der zusammengesunken an einem Fischstand sitzt: Er fühlt sich in seiner Ehre gekränkt, weil er plötzlich als Notfall gilt. Elf Maß habe er getrunken, "ich bin ein sehr guter Trinker", sagt er mit gekränktem Stolz, fängt dann aber lieber an zu flirten.

Das Rettungsteam befragt ihn ausgiebig, misst Puls, bittet ihn, geradeaus zu gehen. Elf Maß? Elmar Wenisch schüttelt den Kopf. Der Australier will ohnehin nicht mitkommen, "Patient verweigert Aufnahme", sagt Wenisch ins Funkgerät. "Auf geht's", sagt Jürgen Lang. "Wenn wir uns hier um jeden Betrunkenen kümmern würden, dann würden wir gar nicht mehr fertigwerden."

© SZ vom 29.09.2008/lado - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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