48 Zusagen, 1000 Teilnehmer:Anleitung zum Aufmüpfigsein

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Veronika Stross' erste Demo: 48 Zusagen, 1000 Teilnehmer. (Foto: Jakob Erp/oh)

"Wenn, dann groß" - wie die freie Bratschistin Veronika Stross mit Hilfe des erfahrenen Aktivisten Peter Grottian ihre erste Demo organisierte

Von Julia Huber, Gräfelfing

Alles begann mit einem Telefonat. Am einen Ende der Leitung war Veronika Stross, 45, eine Musikerin, die so lange kein Konzert mehr gespielt hatte, dass sie sich kaum mehr wie eine Musikerin fühlte. Am anderen Ende der Leitung war ein Freund ihres Vaters. Peter Grottian, 78, Politologe, Aktivist, immer für eine Protestaktion zu haben. "Du, Peter, ich hab beschlossen, ich möcht' was machen", sagte Veronika Stross Ende Juni am Telefon. So erinnert sie sich. "Ich will was Gscheids machen. Nicht so eine kleine Runde von 30 Leuten. Wenn, dann groß."

Veronika Stross sitzt auf einem Sessel in ihrem Wohnzimmer in Gräfelfing, als sie von dem Telefonat erzählt. Die Heizung macht gerade nicht, was sie soll. Veronika Stross hat sich eine Decke geschnappt. Eigentlich ist sie keine von den Lauten. Manchmal, wenn Bekannte diskutieren und alle ihre Argumente furchtbar wichtig finden, sitzt sie eine Stunde daneben und sagt nichts. Später ärgert sie sich dann oft über sich selbst.

Aber diesmal war die Sache anders. Diesmal ging es ums Ganze. Um Musikerkollegen, die verzweifelten, weil sie plötzlich sowohl ihr Einkommen als auch ihre Berufung, die Konzertmusik, verloren hatten. Um Tourmanager, die keine Touren mehr managen konnten. Um Bühnenbildner, Tontechniker, Caterer, Kartenabreißer, Garderobenmenschen. Um sie alle, die sich ignoriert oder vergessen fühlten. Eine ganze Branche, die nichts mehr verdiente. Veronika Stross saß zuhause und musste weinen, wenn ein Mozart-Requiem im Radio kam.

"Aha", sagte also Peter Grottian am Telefon, als er von ihrem Vorhaben hörte: einer gscheiden Demonstration. Grottian wurde vom Spiegel mal "Meister der politischen Aktion", mal "notorisch widerspenstig" genannt. Mal organisierte er Proteste, mal rief er zum massenhaften Schwarzfahren auf, mal störte er die McKinsey-Firmenfeier. Wenn einer wusste, wie man eine Demo organisiert, dann er. Veronika Stross erzählt: "Und dann hat er mir gesagt, wie man so was anfängt."

Punkt eins: Verbündete finden. "Da musst du jetzt mal überlegen, wer könnte dabei sein? Wer könnte helfen?", habe Grottian gesagt. "Diese ganzen Leute musst du anschreiben und zu einem Treffen einladen." Veronika Stross stellte ein paar Freunde und Bekannte zusammen. Gemeinsam mit ihrer Mutter bereitete sie dann Snacks und Dips zu. Damit bei der Protestplanung zumindest keiner hungrig sein würde.

Bei dem Treffen kam es dann direkt zu Punkt zwei: der Aufgabenverteilung, "du musst festlegen, wer was macht". Peter Grottian kam auch zu dem Treffen. Veronika Stross erzählt, er habe die Runde gleich aufgemischt. Wer gerade noch mit einem Snack in der Hand dasaß, den drängte Grottian zu einer Aufgabe. "Peter, jetzt lass mal. Die müssen sich das doch erst überlegen", habe Veronika Stross gesagt. "Nee, nee, ihr müsst das jetzt entscheiden!" Grottian war in seinem Element. Die Überrumpelung wirkte. Einer übernahm die Anmeldung der Demo beim KVR. Eine Andere sagte, sie könne eine Homepage machen. Eine Dritte bot an, Plakate zu entwerfen. Veronika Stross war für die Künstler und Redner zuständig, die bei der Demo auftreten sollten.

Von da an nahm die Demo langsam Formen an. Veronika Stross machte sich an Punkt drei: die Programmplanung. Sie rief Politiker wie den früheren bayerischen Kultusminister Hans Maier an, der sofort zusagte. Sie schrieb eine lange emotionale E-Mail an Gerhard Polt, auf die dessen Frau kurz danach antwortete: "Wir sind dabei. Die Polts." Und sie bemühte sich, Prominente wie den Sänger Jonas Kaufmann und Geigerin Anne-Sophie Mutter zu überzeugen, die beide nie antworteten.

Zwischendrin kam Peter Grottian mit Ideen. "Du musst uuunbedingt Julian Nida-Rümelin fragen!", sagte er. Der Philosoph sagte zu und sorgte später dafür, dass viele weitere Menschen zur Demo kamen. Aber nicht alle von Grottians Ideen setzte Veronika Stross um. Sie verzichtete darauf, 1500 riesige Sombrero-Hüte zu bestellen. Grottian fand, Abstandhalten ginge besser, wenn jeder einen Sombrero trüge.

Fast vier Monate planten und organisierten sie. Veronika Stross saß zum Schluss fast Vollzeit am Computer. Eine Demo zu organisieren ist ein bisschen wie eine Hausparty mit öffentlicher Facebook-Einladung zu schmeißen. Man weiß nicht, ob drei Menschen kommen oder Tausende. Und ob sie Manieren mitbringen. Veronika Stross fragte sich: Wenn es auf der Demo eine Schlägerei gäbe, wäre dann sie verantwortlich? Peter Grottian wusste: Nicht, wenn vorher alles ordentlich organisiert worden ist.

Kurz vor knapp machte Veronika Stross noch eine Facebook-Einladung. 48 Menschen sagten zu, 101 klickten Vielleicht. Zum Glück behielt Facebook nicht Recht. Als der 24. Oktober endlich da war, kamen viele Hundert Menschen auf den Königsplatz. Die Polizei sprach von 700, aber Veronika Stross sagt, es seien mindestens 1000 gewesen. Eine gscheide Demo. Niemand prügelte sich. Alle waren ja gekommen, um auf die Situation der Kulturschaffenden aufmerksam zu machen. Um zu zeigen, dass sich etwas ändern muss. Sie hielten sogar Abstand, ganz ohne Sombreros.

Peter Grottian konnte bei der Demo nicht dabei sein. Er hatte kurz vorher einen Herzinfarkt bekommen und lag deshalb im Krankenhaus. Aber er fieberte vom Klinikbett mit, hörte B5-aktuell, wo die Demo den ganzen Tag in den Nachrichten lief, schaute abends die Tagesthemen, in denen er auch Veronika Stross entdeckte. Er las die Zeitungsberichte. Er rief Veronika Stross an, um am Telefon mit ihr zu feiern, sagte zu ihr: "Ich bin schwer beeindruckt." Peter Grottian hatte diese Woche einen weiteren Herzinfarkt. Er starb am Donnerstagmorgen. Einmal haben er und Veronika Stross sich noch gesehen. Am Dienstag kam er noch kurz bei ihr vorbei. "Ach du Königin", habe er da zu ihr gesagt.

Veronika Stross sagt, es komme jetzt eine weitere schwere Zeit auf Künstler und Musiker zu. Sie will abwarten, bis die Infektionszahlen wieder gesunken sind und der Lockdown wieder aufgelockert ist. Dann will sie wieder eine Demo organisieren. Sie weiß ja jetzt, wie es geht.

© SZ vom 31.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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