Historisches München:Eine Zeitreise ins Jetzt

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Eine neue DVD zeigt Filme aus dem alten München, von denen manche erstaunlich aktuell sind

Von Wolfgang Görl

"Kurzgliedrig und beleibt, trug er einen weit offenstehenden Rock aus braunem Loden, eine helle und geblümte Weste, die in weicher Wölbung seinen Bauch bedeckte (...). - Der hellblonde, spärliche, fransenartig den Mund überhängende Schnurrbart gab dem kugelrunden Kopfe mit seiner gedrungenen Nase und seinem ziemlich dünnen und unfrisierten Haar etwas Seehundsartiges." Das also ist der typische Münchner, so wie Thomas Mann ihn seinerzeit wahrnahm. Es handelt sich um den Hopfenhändler Alois Permaneder, der in Manns Familienroman "Buddenbrooks" eine Lübecker Patriziertochter heiratet, was natürlich schiefgeht.

Bierbauch, Schnauzer und Kugelkopf: Solche rundgewachsenen Urviecher wie den Permaneder gab es wirklich. Um das zu erkennen, muss man nur mal den dreiminütigen Film "Münchner Originale" anschauen, den ein unbekannter Kameramann im Jahr 1912 aufgenommen hat. Da sind sie zu bewundern, die gemütlichen Bierdimpfl mit Zylinder, die breitbeinig ihren Keferloher in wenigen Zügen leeren, dazu die Radiverkäufer, welche die Zecher mit scharfen Rettichwurzeln versorgen, oder die zahnluckerten Gemüsedantlerinnen auf dem Viktualienmarkt. Da ist ein Schuhputzer, der am Karlstor das Leder blank poliert, da sind die Schäffler, die mit schwungvollen Hammerschlägen die Reifen über den Fassrumpf treiben. Rustikal dörflich erscheint dieses München kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und man kann kaum glauben, dass nur ein paar hundert Meter weiter, in der Maxvorstadt und in Schwabing, die Boheme zur gleichen Zeit den Aufbruch in die künstlerische Moderne wagte. Hier der Sägfeiler, die "Trambahnritzenreinigungsdamen" - die Komödiantin Ida Schumacher hat ihnen ein Denkmal gesetzt -, die Dreiquartelprivatiers, und dort die ästhetische Avantgarde. Zwei Kulturen, die gegensätzlicher kaum sein konnten, beherbergte das alte München.

Der kleine Film über die städtischen Originale findet sich auf der soeben erschienenen DVD "München wiederentdeckt", die historische Filmschätze aus den Jahren 1912 bis 1970 enthält. Insgesamt sind es zehn zum Teil bislang unveröffentlichte Dokumentarstreifen, welche die Babelsberger Filmwerte GmbH in Kooperation mit dem Münchner Stadtarchiv herausgegeben hat. Wer sich mittels der DVD auf die Zeitreise durch Münchens Vergangenheit begibt, wird beides erfahren: Kontinuität und Veränderung. Da und dort sieht man ja noch heute Originale vom Schlage eines Alois Permaneder, nur sind sie selten geworden; die Schienenreinigerinnen sind verschwunden, aber noch immer wird der Salvator auf dem Nockherberg getrunken, wenngleich die Maßkrüge, wie auf einem Film von 1914 zu sehen, nicht mehr von den Kellnerinnen in dampfenden Holzzubern gespült werden. Feinere Herrschaften kamen damals per Kutsche zum Starkbiergelage, gehüllt in einen vornehmen Frack, die Damen mit langen Röcken und Hüten von enormen Ausmaß. Im Biergarten fand sich kaum ein freier Platz, und es ging lustig zu. Am Eingang warb ein Plakat für ein Militärkonzert, Menschen posierten fröhlich vor dem Nockherberg-Portal. Niemand ahnte, dass das Ende einer Ära unmittelbar bevorstand, der Zusammenbruch des alten Europa. Wenige Monate später begann der Krieg.

Stadtarchiv
:Eine Zeitreise ins alte München

Eine DVD zeigt bislang unveröffentlichte Filme zwischen 1912 und 1970, von denen manche erstaunlich aktuell sind.

Von Wolfgang Görl

Besonders interessant sind die beiden filmischen München-Porträts aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Die älteren Aufnahmen zeigen eine unbeschwert ihre Schönheit feiernde Stadt, elegante Damen mit Schirm und Hündchen sind unterwegs. Die Radler, die Tram sowie Autos, die heute als Oldtimer im Museum stünden, sausen über den Marienplatz, die Isar glänzt sprudelnd im Sonnenlicht. Selbst die elenden Herbergssiedlungen erwecken den Anschein einer Idylle, und nur wenn man genauer hinsieht, wenn man die Frauen wahrnimmt, die in einem der Stadtbäche ihre Wäsche waschen, blitzt die Ahnung auf, wie hart das Leben in diesem Milieu war.

Im Film aus dem Jahr 1938 erscheint die Stadt auf den ersten Blick als unverändert. Wieder Trubel vor dem Rathaus, das geschäftige Treiben einer Metropole. Aber dann stellt sich Beklemmung ein: Die Synagoge am Lenbachplatz rückt ins Bild, eingerüstet für den Abriss, den die Nazi-Führung verfügt hat. Schaulustige stehen davor, einige lachen. Anschließend zeigt der unbekannte Filmemacher das Parteiviertel in der Maxvorstadt: Über dem Braunen Haus flattert die Hakenkreuzfahne, an den sogenannten Ehrentempeln, in denen die Nazis ihren bizarren Totenkult um die "Blutzeugen" des Hitlerputsches von 1923 zelebrierten, marschieren Wachmannschaften auf; den Königsplatz, in den Zwanzigern noch ein einladender Ort mit weiten Rasenflächen, haben die Nationalsozialisten in einen starren See aus Granitplatten verwandelt.

Zugegeben, es kann schon sein, dass der Betrachter im Wissen um die Verbrechen der Nazis in die Filmszenen eine Düsternis projiziert, die dem eigenen Kopf entstammt. Aber dieses Wissen macht auch scharfsichtig, weil die Momentaufnahmen in einen größeren historischen Zusammenhang gestellt werden können. Wenn etwa der "Führerbau", ins Bild gesetzt als Beispiel heroisierender Nazi-Baukunst, in den Blick gerät, dann weiß man: Das ist nicht nur irgendein Gebäude, das ist der Ort, an dem im nämlichen Jahr 1938 das Münchner Abkommen geschlossen wurde, das Hitler bestärkte, seine aggressive Politik fortzusetzen, die letztlich in den Krieg mündete. Man glaubt es zu spüren: Über das ehedem so lebensfrohe München hat sich der tödliche Ernst eines verbrecherischen Regimes gelegt. Davon künden auch die letzten Bilder: Die evangelische Matthäuskirche an der Sonnenstraße ist zu sehen, um die ebenfalls ein Korsett aus Baugerüsten gelegt ist. Wenige Monate später war von der ersten lutherischen Kirche Münchens nichts mehr übrig. Sie war, so die offizielle Version, der Stadtplanung der Nazis im Weg gestanden.

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Wenige Jahre später liegt die ganze Stadt in Trümmern. Der Film aus dem Jahr 1945, den seinerzeit die Stadtverwaltung in Auftrag gegeben hat, dokumentiert die Katastrophe, die die Nationalsozialisten verursacht haben: die zerstörten Prachtbauten, die Schuttberge, unter denen die Straßen verschwinden, die geborstenen Mauern, die toten Fensterhöhlen, das schwarze Gerippe verkohlter Dachstühle und dazwischen Menschen, die durch die Trümmerlandschaft schleichen. Eigentlich unvorstellbar, dass aus diesen Ruinen wieder eine blühende Stadt wurde. Wie es beim Wiederaufbau zuging, dokumentiert ein Streifen der "Münchner Wochenschau" von 1951. Die Aufräumarbeiten, Kinder, die zwischen Ruinen mit der Bockerlbahn spielen, der wieder instand gesetzte Turm des Alten Peter, oder ein Freundschaftsspiel der Löwen, das auch damals verloren ging: München schwebte gewissermaßen zwischen Ausnahmezustand und Normalität. Immer mittendrin der damalige Oberbürgermeister Thomas Wimmer, der Wimmer Damerl, der das Ramadama erfand.

Es ist eine erstaunliche Zeitreise. Sie führt auch zum Schäfflertanz 1927 oder zum Metzgersprung im folgenden Jahr, bei dem die Burschen in Zottelkostümen aus Kälberschwänzen zum Gaudium Tausender Zuschauer in den Fischbrunnen am Marienplatz springen. Der jüngste Film auf der DVD wurde 1970 gedreht, ein Beitrag für die BR-Reihe "Unter unserem Himmel". Es ist ein Porträt der Türkenstraße, angefertigt von Gerhard von Ledebur. Der Fernsehjournalist führt darin Klage über den Niedergang eines wildwüchsigen Milieus. Es ist wie ein Nachruf, ein Abgesang auf unaufgeräumte Hinterhöfe, in denen Handwerker und Künstler ihr Refugium haben, auf kleine Boutiquen, in denen Hippiemädchen nostalgische Secondhand-Klamotten kaufen, auf die dem Abriss geweihten Gemäuer der Türkenkaserne, in der Jazz gespielt wird und Rockbands auftreten und die jungen Leute tanzen. Dieses Boheme-Leben "wird in einigen Jahren vorbei sein", prognostiziert Ledebur. Die Stadtsanierung und die steigenden Mieten werden der Straße die Seele rauben - man könnte den Text fast unverändert über die Bilder heutiger Szeneviertel legen.

Wer München Anfang der Siebzigerjahre erlebt hat, dürfte, genau wie Ledebur, melancholisch werden: Ja, das Leben war weniger reglementiert, da gab es Keller und billige Räume, in denen die Leute feiern konnten, ohne dass ein Türsteher die Geduldeten von den Unerwünschten schied, da waren die vor sich hinbröckelnden, noch nicht der optimierten finanziellen Verwertung preisgegebenen Gewölbe, in denen Bands spielten oder Theatergruppen auftraten, da waren die endlosen Politdiskussionen in Hinterzimmern, umwölkt von Zigarettenrauch und sonstigem mysteriösen Qualm, und nach der Polizeistunde, wenn an Heimkehr nicht mehr zu denken war, übernachtete man in irgendeiner WG, und in ganz guten Nächten blieb man auch dabei nicht allein. Wunderbare Jahre.

Eines wenigstens tröstet: Zu einer "Welt der grauen Betonklötze", wie Ledebur befürchtete, ist die Türkenstraße dann doch nicht geworden.

München wiederentdeckt. Historische Filmschätze von 1912-1970 auf DVD. Edition "Wiederentdeckt"; 17,90 Euro.

© SZ vom 17.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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