102-jähriger Münchner:Ein ordnungsgemäßes Lotterleben

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Vom Prinzregenten bis zur Finanzkrise: Hans Zinsmeister hat viel erlebt. Die Geschichte eines 102-jährigen Münchners.

Wolfgang Görl

Als Hans Zinsmeister geboren wurde, regierte in München Prinzregent Luitpold. Es war, so will es die Legende, eine gemütliche Zeit, weitaus beschaulicher als heute. Aber das ist nur eine oberflächliche Sicht der Dinge. Hinter den Kulissen bahnte sich Unheilvolles an, nicht zuletzt in Berlin, wo Kaiser Wilhelm II. seine Großmachtpolitik zelebrierte. In Bayern aber gab man sich noch biedermeierlichen Illusionen hin, angereichert mit dem Glauben an den technischen Fortschritt, dem man bei der Grundsteinlegung des Deutschen Museums 1906 volltönend huldigte.

Einige Male in seinem langen Leben habe er "großes Glück gehabt", sagt der 102-jährige Hans Zinsmeister. So wohl auch, als der ehemalige Lehrer im Schulbetrieb Irene kennenlernte. (Foto: Foto: ales)

Hans Zinsmeister kam am 16.Januar 1907 auf die Welt, und diese Welt war erstmal die kleine Stadt Kusel im Nordpfälzer Bergland. Kusel liegt in der Rheinpfalz, und die - auch das ist ewig her - gehörte zum Königreich Bayern. Die Eltern schwärmten noch lange von den schönen Tagen in Kusel. "Es war die lustigste Zeit ihres Lebens", sagt Zinsmeister. Es gab "Wein, Weib und Gesang", wobei er, wohl mit Hinblick auf das Weib, hinzufügt: "Aber sie waren ja schon verheiratet."

Hans Zinsmeister sitzt auf dem Sofa in seinem Haus in Ramersdorf, die Krawatte ordnungsgemäß - ein Wort, das er gern verwendet - über dem feinen Hemd gebunden, und als er auf seinen drei Wochen zurückliegenden 102. Geburtstag zu sprechen kommt, muss er lachen. Der Ministerpräsident hat ihm eine Porzellanschale geschickt - herrje, was soll er damit anfangen! "So ein Witz", sagt seine Frau Irene, worauf die beiden den Oberbürgermeister Christian Ude loben, weil der einen Geschenkkorb mit Feinkost gesandt hat.

Die Delikatessen haben die Zinsmeisters weitgehend verputzt, und die Porzellanschale - Schwamm drüber, es gab Schlimmeres in seinem Leben. Eben hat er es wieder Revue passieren lassen, zwei Stunden lang mit leiser Stimme, zwei Stunden für 102 Jahre, da kann man nur das Notwendigste erzählen.

Was für eine Zeitspanne: die Prinzregentenjahre, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, die Weltwirtschaftskrise, die Nazi-Herrschaft, der Zweite Weltkrieg, der Wiederaufbau, die bundesrepublikanische Wohlstandsgesellschaft, der Fall der Mauer und jetzt wieder die Krise. Als Soldat war ihm der Tod einige Male ganz nahe. Er hat Glück gehabt, großes Glück - auch das eines seiner Lieblingsworte.

Achilles und Grammatik

Der Vater war Altphilologe, königlich-bayerischer Beamter im Schuldienst, der für einige Zeit in Kosel Latein und Griechisch unterrichtete. Die Familie zog bald nach Dinkelsbühl, der Heimat seiner Mutter, später nach Dillingen an der Donau. Mit den alten Griechen ist Zinsmeister gleichsam aufgewachsen, dafür sorgte der Vater. Schon früh hat er seinem Sohn Gustav Schwabs "Sagen des klassischen Altertums" geschenkt, und Hans hat sich in die alten Geschichten versenkt wie andere in Grimms Märchen. "Die Ilias und die Odyssee haben mich fasziniert, Achilles war mein Schwarm."

Achilles, der Kämpfer, der zwiespältige Held, den der Pfeil des Paris tötete. Von der Antike ist Zinsmeister nicht mehr losgekommen, und er wollte es auch nicht. Nachdem er 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft nach München zurückgekehrt war, machte er sich daran, eine griechische Grammatik zu schreiben. Noch heute bewährt sich das Lehrbuch im Unterricht, erst kürzlich ist wieder eine neue Auflage erschienen.

Vom Heldentum war auch im deutschen Kaiserreich ausgiebig die Rede, 1914, als Zinsmeister noch ein kleiner Bub war. Die Männer zogen in die Schlacht, bejubelt und siegesgewiss, überall im Reich und so auch in Dillingen. Dann die Ernüchterung. "Ich kann mich noch gut erinnern, wie die ersten Verwundeten zurückgekommen sind." Der Schüler Zinsmeister ist zum Bahnhof gelaufen, er wollte und musste dabei sein. "Vor lauter Aufregung bin ich in den Dreck gefallen." Fürs Heldentum war er gottlob noch zu jung.

Abitur in Dillingen, bei der Schlussfeier hat er die Mondscheinsonate auf dem Klavier gespielt, "auswendig", wie er stolz vermerkt, dann ging's zum Studium nach München. Neben Latein und Griechisch waren für die Studenten der Altphilologie auch Deutsch und Geschichte obligatorisch.

1930, nach vier Jahren Studium, absolvierte er das erste Staatsexamen. Er wohnte bei seinen Eltern in der Neureutherstraße, der Vater war inzwischen Lehrer am Wilhelmsgymnasium. Damals, in den zwanziger Jahren, hatte München vieles von seinem Ruhm als Kunststadt eingebüßt, Zinsmeister war aber dennoch begeistert: "Ich bin wahnsinnig oft ins Theater und in die Oper gegangen. Man musste in aller Früh aufstehen, um fünf Uhr morgens hat es die Studentenkarten gegeben."

Nach einem Intermezzo als wissenschaftlicher Assistent an der Uni lehrte Zinsmeister erst am Maxgymnasium und dann, "gegen meinen Willen", an einer Aufbauschule, die nach dem NSDAP-Gauleiter und bayerischen Kultusminister Hans Schemm benannt war. "Ha-Sche-Mü" hieß die Schule im Jargon. Eines Tages bat der Ha-Sche-Mü-Oberstudiendirektor den Lehrer Zinsmeister zum Gespräch: "Ich habe festgestellt, Sie sind noch gar nicht in der Partei."

Zinsmeister erstarrte. Er wollte nicht in die NSDAP. Seinen Vater hatten die Nazis aus dem Schuldienst geworfen, weil er sich der Partei verweigert hatte, und darüber hinaus: "Was die mit den Juden gemacht haben, wie sie die Leute gebrandmarkt und durch die Straßen getrieben haben, das war mir völlig zuwider." Aber so deutlich durfte er damals nicht werden. Zinsmeister sprach von gewissen Vorbehalten gegenüber der NSDAP, ließ sich auch nicht beirren, als ihm ein halbes Jahr später abermals der Eintritt in die Partei nahegelegt wurde. Und er hatte Glück. "Der Schulleiter war so anständig, dass mir daraus keine Nachteile entstanden sind."

"Das war tödlich"

Noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs meldete er sich zum Militärdienst bei der Luftwaffe. Beim Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen flog Zinsmeister als Beobachter im Aufklärungsflugzeug die ersten gefährlichen Einsätze. Einmal, im Luftraum über Warschau, wurde die Doppeldecker-Maschine von der polnischen Flugabwehr getroffen, doch der beschädigte Holm hielt bis zur Landung.

In Frankreich wiederum vollführte Zinsmeisters Flugzeug beim Landen einen Kopfstand, auch diesmal kam die Besatzung mit dem Leben davon. Wieder einmal Glück gehabt, wie ja überhaupt der Krieg, den Hitler angezettelt hatte, für die deutsche Wehrmacht einen günstigen Verlauf zu nehmen schien: "Wie hatten keine Befürchtungen, dass es schief gehen könnte, am Anfang war ja alles ein Siegeszug. Erst als England nicht funktionierte, haben wir Bedenken gekriegt."

Am 22. Juni 1941 marschierten die deutschen Truppen in der Sowjetunion ein. Zinsmeisters Flugstaffel wurde in den Osten beordert. Bis zu neun Stunden dauerten die Aufklärungsflüge über feindlichem Gebiet. Am 1. September 1941 kreiste die Maschine über der ukrainischen Stadt Charkow, vier Mann waren an Bord: der Flugzeugführer, zwei Bordschützen und der Beobachter Zinsmeister.

"Wir hatten ideales Aufklärungswetter, das heißt: In 2000 Meter Höhe gab es eine Wolkendecke. Wenn man in Beschuss kam, ging es hoch in die Wolken, und weg waren wir." Aber diesmal rissen die Wolken auf, der Himmel wurde glasklar. "Das war tödlich. Wir sind wieder auf 6400 Meter gestiegen. Da warteten schon die russischen Jäger. Neun Stück."

Ein Jagdflugzeug attackierte die Deutschen von unten, ihre Maschine geriet in Brand. "Da gab's nur eins: Raus mit dem Fallschirm." Noch nie hatte Zinsmeister einen Fallschirmsprung absolviert, nicht einmal übungsweise. Immerhin wusste er: Zieht man die Reißleine zu früh, droht der Tod durch Sauerstoffmangel. Der Absprung glückte insofern, als Zinsmeister lebend auf einem Feld aufkam. "Ich war benommen. Als ich aufwachte, lag ich im Schoß eines feindlichen Soldaten, der mir den Stiefel ausgezogen hatte, weil ich am Fuß blutete."

Acht Jahre Gefangenschaft

Der Soldat kam aus der Ukraine. "Die Ukrainer haben uns anfangs als Befreier betrachtet, die waren anders als die russischen Soldaten. Er legte seinen Arm um mich, und plötzlich fällt mir ein: Du gehst ja in Gefangenschaft." Zinsmeister wurde zu einem Lkw geschleppt, auf dem bereits der Flugzeugführer und einer der Bordschützen saßen. Von dem anderen haben sie nie wieder etwas gehört.

Die Gefangenschaft dauerte acht Jahre. Verhöre, Arbeit im Steinbruch, Holzfällen, Kohle abladen. Mal war Zinsmeister in diesem Lager, mal in jenem, insgesamt waren es dreizehn. Im Mai 1949 kam er frei. Kehrte zurück nach München, in die kriegszerstörte Stadt. Und er arbeitete wieder als Lehrer: zunächst am Maxgymnasium, dann am Wilhelmsgymnasium. Dort, bei einem Elternsprechtag, lernte er Irene kennen, die später seine Frau werden sollte. Es ist seine zweite Ehe. Seine erste Frau war früh gestorben. "Lungenkrebs. Sie hat zu viel geraucht."

Dass Zinsmeister nicht gerade ein Leisetreter war (ob sich das im Alter gelegt hat, muss offen bleiben), ist dem Brief zu entnehmen, den der damalige Leiter des Wilhelmsgymnasium an den scheidenden Kollegen schrieb: "Sie hielten nie hinter dem Berg, stellten sich dem andern. Brausten bei Ihrem federnden Temperament auch einmal auf. Doch Explosionen reinigen die Luft."

So einen brauchte das bayerische Kultusministerium offenbar in Niederbayern. 1966 avancierte Zinsmeister zum Oberstudiendirektor am Hans-Leinberger-Gymnasium in Landshut. Zudem wurde er, wie es im Amtsdeutsch hieß, "mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Ministerialbeauftragten für die Gymnasien Niederbayerns beauftragt". Was die höheren Schulen betrifft, war Niederbayern, so formuliert es Zinsmeister, seinerzeit "unterentwickelt".

Zwar gab es Klosterschulen, meist in Form von Internaten, aber die waren vielen Eltern zu teuer. Also machte sich der Ministerialbeauftragte Hans Zinsmeister daran, dem Missstand abzuhelfen. Etliche niederbayerische Gymnasien verdanken ihre Existenz dem Wirken Zinsmeisters, dessen "federndes Temperament" auch in der Provinz fruchtbringend zur Geltung kam: "Sie kennen die Kraft seiner Stimmbänder, wenn der Einsatz einer gewissen Phonstärke der Sache dienlich ist", hieß es in einer Rede zu seinem Abschied aus dem Staatsdienst. So einer kriecht auch nicht zu Kreuze, wenn er einen Orden erhalten soll.

Im Dezember 1973 teilte ihm der damalige bayerische Kultusminister Hans Maier mit, dass er, Zinsmeister, mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik ausgezeichnet werde. Weil ein Kollege, der Zinsmeister zufolge nicht mehr vollbracht hatte als er, einen höherklassigen Orden bekam, lehnte er zum Entsetzen von Frau Irene ab.

Heute lässt es Zinsmeister - was Wunder - ruhiger angehen. Längst vorbei die Zeiten, als er als kühner Skifahrer und Bergsteiger die Leute beeindruckte. Mit dem Tennisspielen hat er im Alter von 92 Jahren aufgehört. "Ich schlafe bis zehn Uhr, das Frühstück findet um zwölf statt." Seine Frau sagt: "Wir führen ein Lotterleben."

Vielleicht darf man hinzufügen: ein ordnungsgemäßes Lotterleben.

© SZ vom 10.02.2009/sonn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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