Türkei:Der Herr der langen Listen geht um in der Türkei

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Wer sich nach dem Putschversuch 2016 auf einer seiner Listen wiederfand, wurde festgenommen und angeklagt: Justizminister Bekir Bozdağ, hier im Februar 2018. (Foto: Burhan Ozbilici/AP)

Justizminister Bekir Bozdağ soll dem Volk nach den Erdbeben zeigen, dass es im autokratischen Reich von Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Art Gerechtigkeit gibt.

Von Raphael Geiger

Ein türkischer Justizminister ist oft dafür zuständig, die Gerechtigkeit in Form von Listen zu präsentieren. Möglichst langer Listen. Jetzt, nach den Erdbeben, war es die Liste der Bauunternehmer, deren Gebäude eingestürzt waren. Weil sich die Bauherren mutmaßlich nicht an die Vorschriften gehalten hatten. Dazu kam die Zahl der Plünderer, die man in den Erdbebengebieten festgenommen hat.

Es ist Bekir Bozdağs dritte Amtszeit als Justizminister, er war zwischendurch Vizepremier und Regierungssprecher. In seine zweite Zeit im Ministerium fiel der Putschversuch im Juli 2016, auch damals war er der Mann der Listen. Wer sich auf einer von ihr wiederfand, galt als Putschist, wurde festgenommen, angeklagt, aus dem Staatsdienst entfernt. Hunderttausende Menschen waren davon betroffen.

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Die Türkei ist spätestens seitdem ein autoritär regiertes Land. Kein Richter kann es sich leisten, ein Urteil zu fällen, das der Staatsführung nicht passt. Das "World Justice Project" hat der Türkei im Rechtstaatsindex zuletzt den Platz 116 zugewiesen, sie liegt damit hinter Russland und Belarus. Es ist die Ohnmacht vor der parteiischen Justiz, die vielen Türkinnen und Türken zu schaffen macht, sie oft zum Auswandern bewegt. Zu wissen, wie ungerecht es im Land zugeht, kann erdrückend sein - dass man seine Freiheit mit einem Social-Media-Post aufs Spiel setzt, während sich andere das Gesetz kaufen können.

Bekir Bozdağ gehört zu den Gründern der AKP, der Erdoğan-Partei, die dem Namen nach für Fortschritt steht - und für Gerechtigkeit. Bozdağ ist einer der wenigen, die von Anfang an dabei sind und noch immer zum engen Zirkel um den Präsidenten gehören. Er ist dem Staatschef treu ergeben. Bei wichtigen Verfahren gegen Erdoğans Gegner hat er mitgewirkt. Auch innerhalb der AKP gilt er als Falke, was man besonders im Verhältnis zu Deutschland merkte.

In den Jahren um 2016 war das, als die Türkei deutsche Journalisten und Menschenrechtsaktivisten einsperrte. Bozdağ betonte, man habe auf die Verfahren keinen Einfluss, die Justiz sei unabhängig. "Türken in Deutschland" dagegen, sagte er, hätten "keine Rechte". Als er 2017 ins baden-württembergische Gaggenau reisen wollte, sagte der dortige Bürgermeister die Rede ab, zu viele Teilnehmer waren in der Halle erwartet worden. Die türkische Regierung war empört.

Bozdağ stammt aus einer Kleinstadt östlich von Ankara. Der Kurde studierte Theologie und Jura und gehört zu jener ersten AKP-Generation, die aus ihren einfachen Verhältnissen heraus das Land verändern wollte. Es sollte konservativer und islamischer werden, aber schon auch: gerechter. Die Gläubigen sollten im kemalistischen Staat keine Bürger zweiter Klasse mehr sein.

Heute hat die AKP selbst ein Mehrklassensystem geschaffen. Eines von Vetternwirtschaft, das wenigen Sympathisanten nützt, während der Aufschwung für die vielen vorbei ist. Die Erdbeben haben das offensichtlich gemacht: Die einen sterben, weil sich die anderen beim Bau bereichert haben. Bozdağs Auftrag ist es jetzt, die Wählerinnen und Wähler zu erreichen. Sie sollen der Regierung vertrauen, sollen glauben, dass den Schuldigen Gerechtigkeit widerfährt. Also denen, die auf der Liste stehen.

Gerade in der türkischen Autokratie ist der Justizminister wichtig. Bozdağ ist es, der den rechtsstaatlichen Anschein wahren muss. Er ist es auch, der im Fall des zu Politikverbot verurteilten Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoğlu die Entscheidung treffen könnte - zusammen mit Erdoğan. Imamoğlu war als Präsidentschaftskandidat der Opposition im Gespräch. Bozdağ könnte, sollte Imamoğlu doch noch antreten, das Urteil vor der Stichwahl bestätigen lassen. Dann stünde Erdoğan ohne Gegenkandidat da.

Der fände das, genau wie sein Justizminister, wohl gar nicht so ungerecht.

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