Als Joseph Brodsky starb, begann Frank Schirrmacher, der den großen russisch-amerikanischen Dichter persönlich gekannt hatte, seinen Nachruf mit dem Satz: "Wir protestieren gegen diesen Tod." Das war ein typischer Schirrmacher-Auftakt, rhetorisch bis zur Verwegenheit, unvergesslich wie ein Reklameslogan, spontan polarisierend, ein bisschen verrückt.
Gegen den Tod protestieren, vor allem gegen einen bestimmten Tod? Darüber wurde hinterher in der Feuilleton-Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die Frank Schirrmacher damals, im Januar 1996 als erst 36 Jahre alter Herausgeber leitete, bedenkenreich debattiert. Aber der Satz stand da, und er hat sich so eingeprägt, dass er jetzt beim Tod seines Urhebers abrufbar ist. Schirrmacher, der einen abgründigen, zuweilen diabolischen Sinn für Humor besaß, hätte gegen die Wiederverwendung nichts einzuwenden gehabt.
Der jugendliche Frank Schirrmacher in der späten Bundesrepublik - er war eine schier unglaubliche Erscheinung. Sein Studium der Literaturwissenschaften schloss er mit einer umstrittenen, von neuester amerikanischer und französischer Theorie getragenen Arbeit zu Franz Kafka ab, die seine Heidelberger Lehrer verstörte, die Siegfried Unseld aber sofort für die "Edition Suhrkamp" akquirierte. Als der ebenso glänzend wie dunkel geschriebene Band - wir Altersgenossen dachten an Walter Benjamins absichtsvolle Unverständlichkeit - erschien, hatte Schirrmacher die akademische Welt hinter sich gelassen und war als einer der jüngsten Redakteure in die Feuilletonredaktion der FAZ eingetreten.
Nachfolger von Marcel Reich-Ranicki
Dort brannte der Liebling des Herausgebers Joachim Fest, dem er 1994 als jüngster Herausgeber des altständischen Blattes nachfolgte, ein Feuerwerk von Artikeln ab, die die Leser sofort an Vorbilder wie Friedrich Sieburg und Karl Heinz Bohrer denken ließen. Schirrmacher, der später ganz andere Bahnen betrat, begann als konservativer Revolutionär, dessen Helden Ernst Jünger, Stefan George und Rudolf Borchardt hießen, und der in provozierendem Gegensatz zur Gesinnungsästhetik der alten Bundesrepublik mit Lust das "gefährliche" Denken der deutschen Rechten neu erprobte. Damit fiel er auf, damit polarisierte er auf der Stelle. Nach drei Texten war der Mittzwanziger ein bekannter Mann im deutschen Journalismus.
Seine irisierende Intelligenz bewies Schirrmacher aber im selben Moment dadurch, dass er sich im Historikerstreit auf offener Bühne gegen seinen Mentor Joachim Fest wandte - mit neonationalem, revisionistischem Muff wollte der passionierte Leser einer tragischen deutschen Literatur nichts zu tun haben. Fest hatte die Größe, das zu schlucken, und der mächtige, mit Fest damals bereits zerfallene Literaturchef Marcel Reich-Ranicki, der Schirrmacher zunächst mit äußerstem Misstrauen betrachtet hatte, begann sich mit der Idee anzufreunden, dass hier ein begabter Nachfolger bereitstehe.
Dass er nicht nur ein schreiberisches, sondern auch ein taktisches Genie war, hat Schirrmacher nie verleugnet - er war sogar stolz darauf. Erst Nachfolger von Reich-Ranicki und danach von Joachim Fest zu werden, in einer sich im kleinen, verschworenen Kreis selbst ergänzenden Führungsgruppe, das war eine Leistung, die nicht nur auf seiner nie bestrittenen literarischen Höchstbegabung beruhte, sondern auch auf einer, man kann es nicht anders nennen, dämonischen Geschicklichkeit. Diese Geschicklichkeit aber war ein besonderer Ausdruck seines journalistischen Ingeniums, seiner Fähigkeit, kommende Dinge zu erahnen, neue Konstellationen zu entdecken, Alternativen zuzuspitzen und Positionen blitzschnell zu wechseln.
Schon als Literaturchef, dann als Herausgeber machte er das Feuilleton zu einem zeitdiagnostischen Debattenschauplatz. Dass er am 1. Januar 1989, im Jahr der Revolution, zum Nachfolger Reich-Ranickis wurde, eröffnete ihm die erste der vielen Aktualitätschancen, die er mit revolutionärer Entschiedenheit nutzte. Von Fests Fehlern lernend, zog Schirrmacher in allen großen Feuilletonkriegen, die er seither anfachte - dem Streit um die Vergangenheit von Paul de Man, dem Literaturstreit um Christa Wolf, der Walser-Bubis-Debatte, der naturwissenschaftlichen Neuorientierung des Feuilletons - grundsätzlich alle Positionen ins eigene Blatt: Lagerkämpfe sollte es nicht mehr geben, sondern nur das eine große Welttheater.
Der große Auftritt, die überraschende Volte, durchaus auch die Machtgeste wurden zu seinem Register. Polarisierend wirkte er dabei nicht durch Positionen, sondern als Person. Dass er viele abhängte, viele verletzte und von vielen auch verlassen wurde, gehörte für ihn dazu. Noch als Student, als er schon entschlossen war, zur Zeitung zu gehen, vertraute er Freunden an, dass er "Sinn in diese Bundesrepublik" tragen wolle und dass er die Macht liebe. Beide Sätze verletzten um 1985 Tabus. Ihnen ist Schirrmacher aber treu geblieben, in einer Karriere, in der alles, was man auf Erden erreichen kann, schneller eintrat als in gewöhnlichen Lebensläufen.
Seine steile Karriere erfuhr aber 1996 einen Knick. Übelwollende hatten dem Spiegel ein paar interne Details aus Schirrmachers Leben gesteckt. Der Spiegel titelte "Überflieger im Abwind". Der Artikel begann mit den Worten "Er hat es gerne groß". Von "Superlativen im Sonderangebot" war die Rede. Noch schlimmer war, dass kurz zuvor elf Redakteure des FAZ-Feuilletons in einem Brief an Schirrmacher eine "beunruhigende Verschlechterung des Arbeitsklimas" konstatiert hatten. Das Büro sei ein Ort geworden, "den man morgens mit Beklemmung betritt und den man abends erleichtert verlässt".
Vielleicht am abträglichsten war, wie der Artikel konstatierte, "Schirrmachers sorgloser Umgang mit der eigenen Biografie": Schirrmacher wurde an der Gesamthochschule Siegen promoviert - mit einer Arbeit über Kafka, die er fast genauso zuvor schon publiziert hatte. Den Titel änderte er später, sodass es wirkte, als sei seine Doktorarbeit - wie es sich gehört - ein völlig neuer Text. Genussvoll wurde ihm das nun vorgehalten. Der Verleger Siegfried Unseld befand anschließend, da sei "aus einem höchstmöglichen Nichts an Inhaltlichem die höchstmögliche Wirkung von Häme" ermittelt worden.
Mehr als von diesem Artikel fühlte Schirrmacher sich aber dann infrage gestellt von dem Umstand, dass etliche Redakteure das FAZ-Feuilleton verließen (unter ihnen Gustav Seibt). Die Nachzügler erlebten 1997 einen zurückhaltenden, wie gezähmt auftretenden Schirrmacher. Dem Feuilleton der FAZ tat es gut, dass die Experten ihrer jeweiligen Fächer nun unter ihm frei arbeiten konnten.
Das währte indes nicht lange. Schon 1998 nahm Schirrmacher die Zügel im FAZ-Feuilleton wieder fest in die Hand. Mitunter konnte man ihn sehen, wie er sich hinter Redakteuren, die am Computer saßen, postiert hatte und ihnen strenge Ratschläge gab, wie sie ihre Artikel zu intonieren oder auch wie sie die Texte en détail zu schreiben hätten. Mit dieser Art brachte er es kurz nach der Jahrtausendwende zuwege, dass abermals etliche Feuilleton-Redakteure die FAZ verließen (unter ihnen Franziska Augstein).
In Frank Schirrmacher mischten sich größter Machtanspruch und Unsicherheit. Das mag seiner kleinbürgerlichen Herkunft geschuldet sein: Dass einer wie er jemals zu einem der Vordenker der Bundesrepublik werden würde, war ihm nicht in die Wiege gelegt. Einmal war zu beobachten, wie er mit einem Jackett herumlief, dessen einer Manschettenknopf dabei war, sich zu lösen: Ein langer Faden hing herunter. Kurz entschlossen griff eine Redakteurin zur großen Papierschere, näherte sich Schirrmacher - "Sie erlauben?" - und schnitt den Faden ab. Schirrmacher ließ es mit sich geschehen, aber im Fortgehen sagte er mit drohendem Unterton: "Ist irgend was?" Gern ging er mit Marcel Reich-Ranicki und seiner ersten Ehefrau zum Abendessen. Die Weinkarte studierte er nicht lange. Er sagte: Wir nehmen einen teuren Rotwein, der muss gut sein.
Mehr als ein klassischer Kulturmensch
Schirrmacher hatte eine große Doppelbegabung: Er konnte neue Themen früh ausmachen. Er wusste - Monate, bevor andere es wussten - was in der Bundesrepublik zur Sprache kommen würde. Und er war großartig im Hinblick auf die Absprache mit wichtigen Leuten. Seine Artikel schrieb er ziemlich schnell. Darüber hinaus aber wollte er gern mitmischen, seine Finger überall drin haben. Beides ist ihm gelungen.
Frank Schirrmacher war aber nicht nur ein klassischer Kulturmensch, nicht nur ein scharfer Gesellschaftskritiker konservativer Tradition, nicht nur ein großer Publizist. Er war auch einer der ersten "Digerati", also einer jener Intellektuellen des 21. Jahrhunderts, die auf dem Scheitelpunkt zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften eine Zukunft erkannten, die von den Technologien getrieben neue Welten eröffneten. Weil er aber aus der europäischen Tradition des kritischen Denkens kam, war er weitgehend immun gegen die verführerische Euphorie, die von den amerikanischen Küsten über den Atlantik wehte.
Sicher, der Begeisterung, mit der er sich in die neuen Themen stürzte, schienen keine Grenzen gesetzt zu sein. Unvergessen ist das Feuilleton der FAZ vom 27. Juni 2000, auf dem über sechs Seiten nichts Anderes zu lesen war, als die abstrakte Buchstabenfolge des menschlichen Genoms, das der Biochemiker Craig Venter als erster Wissenschaftler komplett entschlüsselt hatte. Die Überschrift lautete: "Craig Venters letzte Worte".
Die Beharrlichkeit, mit der Schirrmacher Themen nicht nur setzte, sondern von allen Seiten und von allen Beteiligten und Unbeteiligten beleuchten ließ, war einzigartig. Alleine die jüngsten Debatten um die Gefahren der digitalen Kultur durch die Monopolansprüche der Silicon-Valley-Konzerne und die globalen Spähprogramme der NSA zeigten, mit welch intellektueller Verve man Debatten führen kann, deren Höhen und Tiefen oft hinter undurchdringlichem Techno-Jargon und einem blinden Zukunftsglauben verschleiert blieben. Es gibt nicht allzu viele kritische Geister auf diesem Gebiet.
Journalistisches Gespür
Doch Schirrmacher erkannte sie nicht nur früh, er förderte sie auch: David Gelernter, Evgeny Morozov, Constanze Kurz, George Dyson oder der diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Jaron Lanier, bekamen im Feuilleton der FAZ Raum, um ihre Gedanken in einer Länge und über eine Dauer hinweg zu entwickeln, die es sonst nur in akademischen Journalen gab. Immer geführt von seinem journalistischen Gespür, wie man die gebildeten Stände des mittleren Europas nachhaltig mit dem kalifornischen Geist vertraut macht.
Man konnte diesen Frank Schirrmacher auch jenseits des Atlantiks erleben. Wenn man beispielsweise hoch über dem Central Park auf der Terrasse des New Yorker Literaturagenten John Brockman stand, der mit seinem Internetforum edge.org so etwas wie der globale Knotenpunkt dieses neuen wissenschaftlichen Weltgeistes ist. Da konnte es sein, dass Brockmans Handy klingelte und der erfreut "Frank!" ausrief. Was zu einem ausgiebigen Telefonat über den jüngsten Stand der evolutionären Biologie, der Verhaltensökonomie oder der Gentechnik führen konnte. War Frank Schirrmacher da auf einer neuen Spur, klingelte Brockmans Handy auch mal fünf oder zehn Mal hintereinander, immer wieder begrüßt von dem freudigen "Frank!". Da wusste man auch in New York, dass die Zukunft nun sehr viel schneller in Europa ankommen würde als zuvor.
Auf seiner Suche nach diesen neuen Themen halfen ihm aber nicht nur seine Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Es war auch seine Art, Leute für sich zu gewinnen. Als er im Januar 2010 bei der Vorbereitung zu einer Podiumsdiskussion beim DLD-Kongress in München den Informatiker der Yale University David Gelernter kennenlernte, erkannte er in diesem so visionären wie konservativen Intellektuellen einen Gleichgesinnten.
Er beließ es nicht beim Podium. Zwei Tage lang wich er dem amerikanischen Wissenschaftler nicht von der Seite. Er umkreiste dessen hochkomplexe Gedankenwelt erst mit zielsicheren Fragen, fand erst die Gemeinsamkeiten, dann die Lücken in gemeinsamen Leidenschaften in der Kultur, die er mit seiner europäischen Bildungswucht schließen konnte. Aus der Begegnung wurde eine transatlantische Freundschaft, die er immer wieder für die Seiten seines Feuilletons nutzte.
Zu seinem Gespür für Debatten gehörte aber auch seine Bereitschaft, sich zu verrennen. 2007 machte er die Bekanntschaft mit dem Filmregisseur Bryan Singer und vor allem mit dessen Schauspielerstar Tom Cruise, die in Berlin die Geschichte des Stauffenberg-Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli des Jahres 1944 verfilmten. Früh las er das Drehbuch von Christopher McQuarrie. Der Film werde die deutsche Geschichtsschreibung prägen, schrieb er.
Im November vor sieben Jahren hielt er bei der Verleihung des Bambi-Preises an Tom Cruise sogar die Laudatio. Da sagte er: "Eine breite Öffentlichkeit wird anhand seiner Geschichte verstehen, dass man sich dem Unmenschlichen widersetzen kann, und dass Heldenmut und eine menschliche Haltung noch wichtiger sind als der Erfolg einer Tat."
Schirrmacher hatte einen Nerv getroffen. Und sich trotzdem geirrt. Doch beirren ließ er sich davon nicht. Selbst als der Backlash begann, und man ihn kritisierte, er habe sich für einen Kopf der Scientology engagiert, kam er immer wieder auf den Kern seiner Begeisterung zurück - wie wichtig es sei, dass gerade ein Team aus Hollywood einen Film drehe, in dem die Deutschen nicht nur als Nazis porträtiert würden.
Protagonist der Zukunftsdebatten
Bald war Frank Schirrmacher aber nicht mehr nur Begleiter, sondern selbst Protagonist der Zukunftsdebatten. 2009 erschien sein Buch "Payback", stieg zum Bestseller auf, wie zuvor schon seine Prognose des kommenden Generationenkonflikts einer alternden Gesellschaft "Das Methusalem-Komplott" und sein Buch "Minimum". "Payback" war die erste wirklich intellektuelle Auseinandersetzung mit der digitalen Kultur, die in Deutschland erschien.
Der Untertitel war Programm: Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen. Es war eine der ersten großen intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Gefahren der digitalen Technologien, die nicht aus den digitalen Kreisen selbst und auch nicht aus den Denkburgen der Informatiker kam, sondern aus der Tradition der europäischen Geisteswissenschaften. Es war eine scharfe Abrechnung mit dem Zeitgeist, der in den digitalen Medien so etwas wie ein Heilsversprechen sah. Und er machte sich damit zunächst nicht nur beliebt.
"Es ist sehr wichtig zu betonen, dass wir hier nicht über Kulturpessimismus reden", sagte Schirmacher im Gespräch mit John Brockman, das der im Herbst 2009 auf edge.org veröffentlichte. "Wir reden über eine neue Technologie, die de facto eine Gehirntechnologie ist, die mit Intelligenz zu tun hat, also mit Denken und dass diese neue Technologie sehr real mit der Geistesgeschichte des europäischen Denkens zusammenprallt." Die aber war ihm zwar nicht heilig. Aber er sah die Gefahr, die entsteht, wenn man mit dem Gestus der Revolution mit der Geschichte bricht. Wenn aus Idealismus Ideologie wird.
Als John Brockman nun von Frank Schirrmachers Tod erfuhr, war er nicht nur so traurig und geschockt wie viele andere. Sofort entfuhr es ihm: "Das ist ein Verlust, den Sie nicht nur in Deutschland spüren werden, sondern in der ganzen Welt. Er ist unersetzlich. Er schaffte es, dass das intellektuelle Leben in Deutschland über das in Amerika triumphieren konnte. Weil er es wagte, Themen auf die Agenda zu setzen, die niemand in Amerika auf die Agenda setzen wollte."
Auf "Payback" folgte der nächste Wurf: "Ego: Das Spiel des Lebens", in dem er die Auswirkungen einer von Gier und Internet getriebenen Weltwirtschaft durchleuchtete. Zur gleichen Zeit brachte er die immer schärfere Kapitalismuskritik ins einst so konservative Feuilleton der FAZ. Am Donnerstag ist Frank Schirrmacher in Frankfurt an den Folgen eines Herzinfarkts gestorben. Er hinterlässt seine Frau, einen erwachsenen Sohn und eine kleine Tochter. Es wird nun nicht nur seine Person sein, die man vermisst, sondern auch die vielen seiner ungeschriebenen Bücher, seiner ungeführten Debatten. Er wurde 54 Jahre alt.