Zeitung lädt Leser in die Redaktion ein:Was lesen Sie zum Frühstück?

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Der "Guardian" will erreichen, dass Menschen weiter die Zeitung brauchen - und lädt die Leser dafür zu einem "Open Weekend" in die Redaktion ein. Ziel der Mediengruppe ist es, den Leser neu zu begreifen und ihn am Journalismus zu beteiligen.

Mercedes Bunz, London

Mittags, kurz vor zwölf, war die Zeitung vergriffen. Am hauseigenen Stand vor dem Redaktionsgebäude beratschlagten drei ratlose Mitarbeiter, was zu tun sei. An den übrig gebliebenen Merchandising-Produkten drängten in Scharen neugierige Leser vorbei, auf dem Weg zu ihrem nächsten Vortrag. Das "Guardian Open Weekend" hatte sein metaphorisches Bild: Die Zeit der Zeitung ohne Zeitung hatte begonnen, und die Leser hatten das kaum bemerkt. Doch wie sie aussehen könnte, fragt sich eine gesamte Branche, und beim Guardian besonders der Chefredakteur, Alan Rusbridger.

Im vergangenen Juni hatte Rusbridger verkündet, der Guardian werde den Fokus des gesamten Unternehmens auf digital-first setzen. Das bedeutet auch, den Leser neu zu begreifen, und am vergangen Sonntag brachten die Leser die Drehtüren des Neubaus in King's Cross zum schwingen. Die 5000 Tickets für 196 Diskussionen, Vorträgen und Workshops des ersten "Guardian Open Weekend" waren schnell vergriffen, für das die Zeitung kurzerhand das Geschäft ihrer Redakteure auf Bühnen versetzt hatte.

Der englische Wirtschaftsminister Vince Cable wurde interviewt, ein wenig zu freundlich, der Kreuzwort-Redakteur erläuterte dem Publikum sein Metier mit einem Rätselspezialisten, der Kunstkritiker der Zeitung sprach mit Regisseur Steve McQueen ( Shame), und im Konferenzraum diskutierte der Chefredakteur mit den Lesern die Zukunft des Guardian: "Open Journalism" lautet sein Schlagwort, mit dem er einen Journalismus bezeichnet, der für und mit dem Leser gemacht wird.

In den neunziger Jahren erfand der Guardian eine magazinähnliche Zeitung in der Zeitung, "G2" ( Guardian 2) und veränderte damit die Zeitungslandschaft. Nach der Jahrtausendwende öffnete sich das Blatt mit Plattformen wie "Comment is free" früher als andere dem digitalen Journalismus, verzahnte Online- und Print-Redaktion miteinander, auch im Budgetplan. Jetzt erfolgt der nächste Schritt eines radikalen Wandels: Die neueste Medienkampagne des Guardian wirbt nicht mehr um Leser, sondern bewirbt die Konversation mit ihnen: "2 Journalisten, 16 Ärzte, 4362 Patienten und 1 Mann, der niemals krank gewesen ist, reden über die Reform der Krankenkasse. Der Guardian: Web, Print, Tablet, Mobile", heißt es auf der Anzeige.

"Meine Aufgabe ist es, sicher zu stellen, dass es auch in Zukunft Guardian-Journalismus geben kann", sagt Alan Rusbridger, der seit 1995 an der Spitze der Redaktion steht. "Das ökonomische Model, auf dem wir stehen, muss sich verändern. Der Guardian macht immer noch 80 Prozent seines Umsatzes mit der gedruckten Zeitung, doch die Auflage fällt jährlich. Zudem haben wir 40 Millionen Pfund an Anzeigengeld verloren, das so nicht zurückkommen wird."

Im Konferenzraum, auf dessen quietschgelben Sitzsofas sich beim "Open Weekend" 55 Leser zum Gespräch mit dem Chefredakteur und Geschäftsführer Andrew Miller getroffen haben, war es plötzlich still. "Wir sehen Sie als einen täglichen Freund", sagt eine Frau mit Pagenkopf, "bitte beschützen Sie die Zeitung." Und "stellen Sie die Qualität im Journalismus sicher", bat ein älterer Herr - "Was sollen wir sonst jeden Morgen am Frühstückstisch tun?" Mit britischem Humor blickte er auf seine Frau neben ihm: "Wir müssten nach all den Jahren miteinander... reden?" Die Gruppe lacht, doch sie ist besorgt.

Dass das Treffen mit den Lesern so positiv, konstruktiv verlief, hatten die Journalisten im Haus nicht erwartet. "Wenn ich sie am Telefon habe, schreien sie meistens", sagte einer der Redakteur. Journalisten, auf das Einsammeln von Informationen spezialisiert, wissen oft nicht, warum sie den Lesern zuhören sollen. Die oftmals wütenden Briefe und Telefonanrufe, die oft aggressiven Online-Kommentare haben nicht zur Verbesserung des Verhältnisses beigetragen. Doch vergangenen Sonntag gingen Tausende von ihnen friedlich durch die Redaktionsflure.

Alan Rusbridger glaubt, dass die neuen publizistischen Möglichkeiten den Journalismus massiv verändern: "Welches Businessmodell eine Zeitung verfolgt, leitet sich direkt davon ab, wie man seine Leser versteht. Wenn sich die Journalisten als die wahren Experten sehen, ist die Bezahlschranke das richtige Modell. Glaubt man, der Wahrheit im gemeinsamen Wirken mit dem Leser näher zu sein, setzt man mehr auf Mitgliedschaft."

Dass der Guardian sich auf digital-first konzentriert, könnte man auch als getarnte Sparmaßnahme verstehen. 2010 machte die Guardian Mediengruppe massive Verluste (171 Millionen Pfund), mehr als 100 Journalisten verließen in den vergangenen zwei Jahren das Unternehmen, mehrere wöchentliche Beilagen wurden abgeschafft und der Seitenumfang der Zeitung verringert.

Der Geschäftsrückgang kann durch Leserarbeit nicht wieder aufgefangen werden, im Gegenteil: 2011 vermeldete die Zeitung erstmals wieder Gewinne (neun Millionen Pfund) und setzt auf die Expansion des Online-Auftritts. 25 Millionen Pfund werden derzeit in den Aufbau einer amerikanischen Seite investiert, weil ein Drittel der täglich vier Millionen Internet-Leser (Unique Browser) aus den USA stammen. Dort versucht ein Team aus 30 Personen unter der Führung von GuardianNews.com-Chefredakteurin Janine Gibson das flüchtig vorbeiklickende Publikum zu treuen Guardian-Leser zu machen, um die Zeitung für amerikanische Anzeigenkunden attraktiv werden zu lassen.

Während der Guardian im vergangenen Jahr mit dem Aufdecken des Murdoch-Abhörskandals und der Zusammenarbeit mit Wikileaks Schlagzeilen machte, öffnete sich die Redaktion leise, aber nachdrücklich ihren Lesern. Journalistisch bringt das Erfolge: Reporter Paul Lewis war es bei der Berichterstattung über die Londoner Aufstände nur mit Hilfe von Twitter-Followern gelungen, den versprengten Agitatoren auf den Fersen zu bleiben.

Andrew Sparrow wurde für seine Liveblogs zum politischen Geschehen als politischer Journalist 2011 ausgezeichnet. Und die ehemalige Whitehall-Berichterstatterin Polly Curtis klärt täglich mit "Reality Check" in einer offenen Recherche eine Frage des Tages und erforscht mit den Experten unter den Lesern die Auswirkungen der aktuellen Haushaltseinsparungen.

In Deutschland machten sich auf der Konferenz des Bundesverbands deutscher Zeitungsverleger die Zeitungsmacher und Chefredakteure Gedanken, wie die einst starke Leser-Blatt-Bindung in Zukunft erhalten und verbessert werden kann. Im Netz ist die Bindung an publizistische Marken schwach. Die Leser bleiben zu kurz und lesen zu wenig. Der Guardian hat deshalb begonnen, die Flut an Leserkommentare in eine Konversation mit dem Leser zu verwandeln. Auch aus finanziellen Gründen: Rusbridger hofft, an die Stelle einer Paywall eine bezahlte Mitgliedschaft setzen zu können.

Mit dem "Guardian Open Weekend" tastet sich das britische Medienhaus weiter ins digitale Zeitalter vor - ein Ansatz, den auch die französische Zeitung Libération verfolgt, die viermal im Jahr zu ähnlichen Veranstaltungen aufruft.

Am Sonntagabend war der Guardian-Zeitungsstand vorm Haus als einer der ersten abgebaut, während sich drinnen eifrige Leser zur großen Abendveranstaltung versammelten, und es war klar: Zeitungen wandeln sich, aber ihre Funktion als Stiftung einer Gemeinschaft, die bleibt.

Die Autorin arbeitet freiberuflich von London aus und war 2009 und 2010 als Medienredakteurin des Guardian tätig.

© SZ vom 27.03.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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