Porträt:Seid lieb

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Im echten Leben ohne Baseball-Schläger unterwegs: Die Hip-Hop-Moderatorin und Autorin Visa Vie begegnet Rappern meistens mit viel Herzlichkeit. (Foto: Filatow)

Visa Vie ist mit Anfang 30 schon seit Jahren eine Größe im Hip-Hop-Journalismus. Beim Besuch in Berlin erzählt sie vom Sexismus in der Branche und ihrem eigenen Wandel.

Von Aurelie von Blazekovic

"Bitte nicht hier drinnen rauchen!" Im Studio von Radio Fritz scheucht Moderatorin Visa Vie ihren Gast, den Rapper Chefket, auf. "Da oben ist ne Kamera, ich bekomme noch ne Mahnung." Versteht Chefket, der sich gerade, während seine Musik im Radio läuft, eine Selbstgedrehte am offenen Fenster angezündet hat. Der Rapper ist ein guter Bekannter, vermutlich das zehnte Mal ist er schon in ihrer wöchentlichen Sendung Irgendwas mit Rap im jungen RBB-Programm Fritz, lässt sich an diesem Berliner Hitzeabend von ihr zum neuen Album befragen. Jeden Mittwochabend hat sie dort Rapper zu Gast und spielt ihre Musik.

Visa Vie heißt eigentlich Charlotte Mellahn, aber bloß nicht Charlotte nennen, das haben nur ihre rügenden Mathelehrer und Eltern getan. Einfach Lottie. "Die beste Hip-Hop-Moderatorin" nennt Chefket sie in der Sendung. Genau fünf Minuten bevor die Mikros angehen, kam der ins Studio an der Oberbaumbrücke in Kreuzberg spaziert, davon lässt sich Visa Vie nicht groß aus dem Konzept bringen. Versetzt haben sie bisher erst zwei Rapper: Einmal Haftbefehl, das andere Mal Schwesta Ewa, die kurz darauf ins Gefängnis musste.

In den vergangenen zehn Jahren hat Visa Vie so gut wie jeden Deutschrapper interviewt. Mal schwelgt sie mit den Größen des Genres in Erinnerungen, mal nimmt sie die ganz Jungen an die Hand, die gerade ihr Debütalbum promoten und noch nie interviewt wurden. Straßenrapper, Studentenrapper, Superstarrapper, sie kennt sie und ihre Befindlichkeiten alle. "Ich bin ein emotionales Chamäleon." Mit 33 Jahren ist Visa Vie eine Veteranin des Hip-Hop-Journalismus. Einer Welt, in der sich, seit sie Teil von ihr ist, so viel geändert hat. Zu Beginn war sie meistens die einzige Frau im Raum.

"Mich kann so schnell nichts schocken", sagt sie früher am Tag, beim Spaziergang an der Spree in Friedrichshain. Visa Vie hat platinblonde, am Kopf nach oben geflochtene Haare, trägt ein großes Shirt, darunter eine kurze Radlerhose, Sneaker. Ein Style, der nirgends besser funktioniert als in Berlin. Sie liebt das Wasser, recherchiert seit der Corona-Zeit abendelang nach Hausbooten und hat sich nun schon mal ein Schlauchboot gekauft, mit dem sie auf der Spree umherschippert. Ihre Stimme ist angenehm, warm und etwas rau von 17 Jahren Ketterauchen, mit der Hilfe von Hypnose hat sie vor drei Jahren aufgehört. Bei einer Salamipizza am Ufer des Flusses erzählt sie, warum sie jedem Rapper diese Frage stellt: Was ist dein Lieblingstier?

Zum einen ein guter Eisbrecher, zum anderen sagt die Antwort viel über den Menschen, findet sie. Wer mit Tieren nichts anfangen kann, ist ihr unheimlich. Ihr eigenes Lieblingstier: der südliche Brillenlangur. Ein etwa 50 Zentimeter großes Äffchen mit kuscheltierhaften Riesenaugen und knallorangen Babys, das sie mal in einem Thailand-Urlaub gesehen hat. "Die sind sehr familiär, aber auch in der Lage, mal alleine zurechtzukommen. Das erinnert mich sehr an mich selbst."

Zu Beginn war sie meistens die einzige Frau im Raum

Als sie 19 war, entstand ihr Künstlername, da rappte sie auch selbst. Es gibt ein Album von ihr, aber wie das dazugehörige Kassettentattoo auf ihrem rechten Unterarm, in dem "Visa Vie" schnörkelig geschrieben steht, ist ihr die ganze Episode heute ein wenig peinlich. Für die Karriere, die dann kam, die als Rap-Moderatorin, hat die Bedeutung des Namens aber gut gepasst. Von Angesicht zu Angesicht.

2010 führte sie ihr erstes Video-Interview für das Youtube-Format 16bars.tv, die 23-jährige Visa Vie saß auf dem Sofa mit Sido. Der trug damals zwar nicht mehr seine Totenkopf-Maske, hielt aber noch am Bad-Boy-Image fest und schwärmte vom Stinkefinger, den er bei der Echo-Verleihung gerade der versammelten deutschen Musikindustrie gezeigt hatte: "Wann hat man schon mal die Möglichkeit, mit einem Finger alle abzudecken?" Visa Vie lächelt ungerührt, hält das Mikro und stellt die nächste Frage. Fünf Jahre war sie das Gesicht von 16bars, eine lange Zeit in der Branche. Bei ihrem letztem Interview für das Rap-Magazin , wieder mit Sido, nun ein schon deutlich gesetzterer Altrapper, war sie längst selbst ein Star. "Visa Vie gehört zum Deutschrap!", würdigen sie Kommentare unter dem Video.

Heute fühlt sie sich im Radio viel wohler als vor der Kamera. "Es geht da nur um das Gespräch und es gibt nicht die Diskussionen, die es früher gab." Also nicht die ewigen Kommentare über ihr Äußeres, darüber, wie freizügig oder nicht freizügig ihre Kleidung ist, oder wie sie den Rapper anlächelt. Die Radiointerviews seien intimer, es gehe zwar auch um sie, "aber als Person eben, weniger als Objekt". Unter fast jedes Video von 16bars schrieb irgendjemand: Ich wette, die haben gefickt. Oder: Geile Schenkel. Visa Vie konnte nicht anders, als die Kommentare zu lesen und sich zu ärgern, "mache ich auch leider immer noch".

"Für Rapper ist es heute vielleicht anstrengender, in meiner Sendung zu sein, als früher"

Es gab auch Rapper, die ihr gegenüber unangenehm wurden. Aggressiv, weil sie glaubten, dass Visa Vie ihre Karriere zerstören will. "Lass dich nicht abstechen", sagte Sänger und Moderator Olli Schulz mal in einem Interview zu ihr, höchstens halb im Scherz. Sie wiegelt ab. "Ich glaube, anderen Leuten kam mein Leben in dieser Welt viel suspekter vor als mir selbst." Schwierige Momente gab es aber schon. Der Tiefpunkt war wohl der Horrorcore-Rapper, der auf Facebook brutalste Vergewaltigungsfantasien über sie ausbreitete. Was heute für einen Aufschrei sorgen würde und für Solidaritätsbekundungen, interessierte damals niemanden. "Ich war dem alleine ausgeliefert." So war das eben damals, vor acht Jahren, sagt sie. Eine Zeitspanne, die sich bei ihr wie eine Ewigkeit anhört. "Das würde heute so nicht mehr passieren. Das ist das Verdienst vom Feminismus."

In Männerwelten, der Sendung von Sophie Passmann, die im Mai zur Pro-Sieben-Primetime auf sexuelle Belästigung und Gewalt aufmerksam machte, las Visa Vie neben anderen Frauen aus der Öffentlichkeit Hass-Kommentare vor. "Sie soll nicht immer so tun, als hätte sie Ahnung von Rap jeder weis si ist nur wegn Titten angestellt" (sic!). Dass der Auftritt so hohe Wellen schlagen würde, hätte sie nicht gedacht. "Ich glaube, das hat wirklich jeder gesehen. Sogar mein Onkel und meine Tante, die sonst keine Ahnung haben, was ich so mache." Sie ist stolz, Teil davon gewesen zu sein, sagt sie, und froh, "dass die ganze Qual, die man da so mitgemacht hat, am Ende zu etwas Positivem geführt hat".

Die Hip-Hop-Welt war in dieser Hinsicht eine ganze Zeit lang eine Art gesellschaftlicher Ausnahmeort, an dem die Sensibilitäten von Frauen, von Schwulen, von Diskriminierten nicht zählten. Wo "diskriminierungsfreie Sprache" eher ein Schreckgespenst war als ein Ideal. Die explizite Wortwahl, das Spiel mit Rollen, mit dem Bösen - eben Stilmittel des Rap. Das sagt auch ein Disclaimer vor jeder Sendung Irgendwas mit Rap. "Ich komme immer mehr in die Bredouille mit dieser Herangehensweise," sagt Visa Vie. Herabwürdigungen, Beleidigungen in Songs, aber auch in der Alltagssprache: "Ich merke, dass es mich immer mehr nervt." Sie sei da selbst gerade in einem Prozess und wisse noch nicht, wo der hinführt. In letzter Zeit komme es jedenfalls öfters vor, dass sie Rapper wegen ihrer Wortwahl konfrontiert. "Für Rapper ist es heute vielleicht anstrengender, in meiner Sendung zu sein, als früher".

Es ist ein ganz schöner Spagat, den sie da mit einiger Großzügigkeit meistert

Tatsächlich gibt es für Visa Vie auch an diesem Abend Anlass zur Konfrontation. In der zweiten Sendungsstunde telefoniert sie mit der Rapgruppe Nullzweizwei aus Herzogenaurach. Als einer von ihnen nebenbei "no homo" sagt, erklärt sie knapp und diplomatisch, wieso sie das nicht okay findet. In einem Song der Gruppe ist von "Nutten", die "blasen wollen", die Rede. Visa Vie sagt: "Ich will euch nicht an einzelnen Wörtern aufhängen. Ich weiß, dass ihr liebe Leute seid und man euch nicht unterstellen kann, sexistisch zu sein. Richtig?" Es ist ein ganz schöner Spagat, den sie da mit einiger Großzügigkeit meistert: mit den Rappern klarkommen, ihre Kunst präsentieren, aber auch dem deutlich kritischer gewordenen Zeitgeist und ihrem eigenen Wandel gerecht werden.

Vor zwei Jahren startete ihr Hörbuch Das allerletzte Interview, drei Staffeln gibt es auf Spotify. Ein Rap-Krimi, es ist ihr absolutes Herzensprojekt. Es geht um Clara, eine junge Frau, die ganz unbedarft, ja, Rap-Moderatorin wird. Reine Autobiografie ist die Geschichte aber nicht, Clara will den erfolgreichsten Rapper Deutschlands umbringen. Schon eher autobiografisch: der Rat, den Clara im Hörbuch von einer erfahrenen Kollegin erhält: Verhalte dich in Interviews mit Rappern wie ein Eisklotz. Darauf war Visa Vie am Anfang bedacht. Wie ein trojanisches Pferd sei sie in die Rap-Welt gekommen, sagt sie, erst cool und seriös, um dann später mehr von sich zeigen zu können. Heute heißt das für sie: öfters zu widersprechen.

Die Corona-Zeit nutzte sie ohnehin zum Nachdenken. Bis auf die Radiosendung fielen erst mal alle Projekte weg. "Das ist gerade meine längste Zeit ohne Applaus", sagt sie. Als Kind wollte sie immer berühmt werden. In der Schule hat sie Theater gespielt, dann kam Rap, Ausflüge in die Schauspielerei, die Interviews, sie begann, Musik aufzulegen, macht Autowerbung, ist auf Instagram aktiv. In zwei Stunden am Spreeufer wird sie fünf oder sechs Mal erkannt, niemand spricht sie an, aber sie bemerkt die Blicke sofort.

Ihre Oma ist ihr großes Vorbild, sie war Journalistin in der DDR, berichtete aus dem Vietnamkrieg. Zu ihren Ehren hat Visa Vie auf dem linken Unterarm ihre alte Triumph-Schreibmaschine tätowiert. Darunter, am Handgelenk, steht "Seid lieb", ein Zitat aus ihrem Lieblingsbuch "Gott Bewahre" von John Niven. Mehrere Literaturzitate zieren ihren Körper. Manche gefallen ihr nicht mehr, die kommen vielleicht wieder weg, per Laser oder mit einem neuen Tattoo. Es kann auch sein, dass sie sich bald vom Namen Visa Vie trennt, sich nur noch Lottie nennt. Sie will mehr schreiben, Autorin sein. Ein neues Hörspiel von ihr wird es geben, das kann sie schon verraten.

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