TV-Ereignis Olympia:Regisseure überall

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Bis zu 60 Stunden Olympia senden ARD und ZDF täglich live in ihren Mediatheken, die Streams bieten Zuschauern die Freiheit der Programmwahl. Das digitale Angebot bedeutet eine positive Zeitenwende. Macht die Olympischen Spiele für manchen Zuschauer aber auch zu einer anstrengenden Aufgabe.

Cornelius Pollmer

Der Segen digitaler Technik ist mitunter schwer zu vermitteln, aber bei der Eröffnungsfeier dieser Olympischen Spiele muss er sich selbst jenen erschlossen haben, die noch mit dem Zurechtbiegen der Zimmerantenne sozialisiert worden sind. Wolf-Dieter Poschmann kommentierte, er onkelte auch dann noch ins Mikro, als die Schweigeminute längst begonnen hatte. An seiner Seite scheiterten die Athleten a.D. Christian Keller und Kathrin Boron, sie mussten einem leidtun, weil nur das ZDF es für eine gute Idee hatte halten können, die beiden als Co-Moderatoren aufzustellen.

Gute Idee, mangelhafte Umsetzung: Der Online-Auftritt von ARD und ZDF ist zu loben, doch mitunter krachen die Server zusammen. (Foto: dpa)

Boron und Keller hatten die ganze Zeit "Gänsehaut pur", "Gänsehautfeeling pur" und "Gänsehaut, jetzt schon" - früher wäre man solchen Ungemütlichkeiten nur über die Stumm-Taste der Fernbedienung entkommen, diesmal aber gab es den sachdienlichen Hinweis, man könne sich die Eröffnungsfeier auch im Originalton und ohne Kommentar anschauen: in der Mediathek.

Bis zu 60 Stunden Olympia senden ARD und ZDF täglich live in ihren Mediatheken, etwa zwei Drittel davon kommentiert. Teilweise stehen sechs parallele Livestreams zur Wahl. Bogenschießen der Frauen, Tischtennis-Einzel der Herren, Gruppenspiele im Basketball - das Angebot an Liveübertragungen ist so umfangreich wie noch nie, und die bisherigen Zugriffszahlen der beiden Senderportale sprechen dafür, dass diese Olympischen Spiele eine Zeitenwende im Medienkonsum der Zuschauer bedeuten.

"Unsere Erwartungen sind weit, weit übertroffen", sagt Ralf Pleßmann vom Norddeutschen Rundfunk (NDR). 15 Millionen Seitenzugriffe auf sportschau.de kann er für den ersten Sendetag der ARD vermelden. "Das sind genauso viele wie in der gesamten Zeit der Olympischen Spiele in Peking", sagt Pleßmann. Ebenfalls ein Novum: Mehr als 100 000 der Livestream-Aufrufe erfolgten am ersten Sendetag über mobile Geräte.

Das ZDF verzeichnet ähnliche Rekordwerte und die guten Quoten erklären sich zum Teil mit einem neuen Begriff, der jetzt häufiger in den Sendezentralen zu hören ist: "Second Screen". Der zweite Schirm wird in Wohn- und Arbeitszimmern zugeschaltet, wenn Menschen die lineare Übertragung im klassischen Fernsehen mit einem Angebot aus der Mediathek ergänzen. Sie kombinieren zum Beispiel die Leichtathletik im Hauptprogramm mit einem Handball-Stream auf dem iPad.

Die vielen parallelen Angebote sind ein Gewinn, vor allem für zwei Gruppen von Zuschauern: zum Einen die wirklich Interessierten, denen es mehr um den Sport als um deutsche Medaillen geht. Zum Zweiten die Spezialisten, die sich für einen Randsport begeistern, der bislang nur mit ein paar Minuten in den Kompaktblöcken bedacht wurde.

Es ist eine wünschenswerte Freiheit, die das digitale Angebot den Zuschauern bringt. In den Mediatheken gerät der Sport nicht in den Hintergrund seiner eigenen Präsentation durch das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Wenn Michael Steinbrecher im Hauptprogramm mal wieder einen Sportler fragt, wie sich dieses anfühle und jenes, oder wenn er einen Rückblick auf Goldläufe ankündigt ("wir gehen jetzt noch mal rein"), dann kann man sagen: Nö, das machen wir jetzt mal nicht. Der Zuschauer wird sein eigener Regisseur, das ist eine Ermächtigung. Es bedeutet aber auch eine anstrengende Aufgabe.

Der Public-Viewing-Gesellschaft ist ja auch an einem zeitgleichen, gemeinsamen Erlebnis gelegen. Das Livestream-Hopping aber kann sehr einsam machen, wenn man gerade in einer länglichen Halbzeit zwischen Uruguay und Großbritannien im Fußball festhängt, während anderswo die wahrscheinlich wirklich wichtigen Entscheidungen fallen. Olympia ist ein sehr großes Ereignis, die Auswahl des richtigen Streams zur richtigen Zeit eine Herausforderung. Es geht dabei Bequemlichkeit verloren, die einem das geführte Angebot des Hauptprogramms zugesteht.

Wer online Streams zusammenstellen möchte, der muss sich orientieren können in diesem Überangebot. Das mag einen als Normalzuschauer zunächst überfordern. Und dennoch beschleunigen diese Olympischen Spiele die Veränderung unserer Sehgewohnheiten: Ein Ereignis wie London 2012 führt viele Menschen an die Nutzung von Mediatheken heran und damit an zeitversetztes Fernsehen.

So sehr der olympische Online-Auftritt von ARD und ZDF deswegen zu loben ist, die technische Umsetzung ist noch nicht bedingungslos angenehm. Mitunter krachen die Server wegen großer Nachfrage zusammen, und was das Störbild früher im Fernsehen war, das ist heute in der Mediathek ein manchmal leeres Lade-Versprechen: "Fülle Puffer".

© SZ vom 03.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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