Der Mechanismus der Ausgrenzung ist in solchen Fällen stets derselbe. Man kann ihn mit einem Paintball-Spiel vergleichen. Die grell leuchtenden Farbkugeln, mit denen die Spieler auf ihre Kontrahenten schießen, sind wie aktuelle gesellschaftliche Bannwörter. Viele beginnen mit Vorsilben wie "rechts" und "hetz" oder enden auf "phob" oder "feindlich". Dabei ist es in vielen Fällen nachrangig, ob einer wirklich hetzt und tatsächlich Angst vor einer bestimmten Religion oder gesellschaftlichen Gruppe verbreitet oder ihr gar feindlich gesonnen ist. Wichtig ist, dass ihn möglichst schnell möglichst viele grelle Geschosse treffen. Und wenn ein Großkaliber wie der NZZ-Chefredakteur mitfeuert, beschleunigt das das moralische Standgericht ungemein.
Neben den Bannwörtern kommt es auch auf die richtigen Schutzbegriffe an. Wer den Anderen mundtot machen will, muss gleichzeitig ein Gut postulieren, das es zu verteidigen gilt. Toleranz zum Beispiel. Toleranz findet jeder gut - selbst wenn ihm die Bedeutung des Begriffes völlig fremd ist. Tolerant: Das ist heute, wer dem säkularen, postnationalen, multikulturellen und von Gender Mainstreaming und Diversity durchdrungenen Geist der Zeit beipflichtet. Intolerant und verdächtig sind alle anderen, selbst wenn sie ihre Zweifel so leise und gesittet vortragen wie die Dame von der NZZ.
Wie herrschende Meinungen andere verdrängen
Dass Toleranz das Gegenteil dessen meint, was seine selbsterklärten Wächter behaupten? Egal. Es gilt nicht mehr, die andere, von der eigenen Überzeugung abweichende Meinung auszuhalten, sie im Wortsinne zu dulden. Wo die europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts politische Gegner sahen, die es auch im Streitfall als Mitbürger zu achten und im Notfall zu schützen galt, sehen die Bürgerwehren des Zeitgeists nur noch Feinde des Fortschritts. Die muss, nein, die darf man nicht tolerieren.
Die sozialwissenschaftliche Hypothese zu dieser moralischen Hausmeisterei - dreieinhalb Jahrzehnte alt, aber immer noch hilfreich - ist Elisabeth Noelle-Neumanns "Schweigespirale". Sie besagt, dass tatsächlich oder auch nur vermeintlich vorherrschende Meinungen andere Meinungen mit der Zeit verdrängen können, indem deren Vertreter sich aus Furcht vor Ausgrenzung aus dem Diskurs zurückzuziehen.
Der Fall der NZZ-Autorin Henkel ist ein gutes Beispiel dafür. Jede Wette: Weder sie noch irgendein anderer Mitarbeiter der großen alten Zeitung wird es künftig noch wagen, einen Text abzugeben, der der kodifizierten Haltung der Blattspitze widerspricht. Dasselbe dürfte für die Mitarbeiter von Zeit Online und Spiegel Online gelten, die die Begeisterung ihrer eigenen Führungskräfte für Spillmanns Machtwort registriert haben.
Wie immer weniger sag- und schreibbar wird
Neu an diesem Prozess ist neben dem immer schriller werdenden Ton auch das Tempo der öffentlichen Verurteilung. Die Schweigespirale, die Noelle-Neumann im Zuge einer Wahlkampfbeobachtung in den Siebzigern entwickelt hat, beschreibt eine allmähliche Ausgrenzung. Im Digitalen dauert das Ganze nur noch Stunden. Aus der stillen Spirale ist eine Art Brüllfeder geworden: Statt abzuwarten, bis einer von selbst verstummt, wird er mit maximaler Lautstärke hinauskatapultiert. Die Menge des Sag- und Schreibbaren wird dabei stetig kleiner.
Peter Sloterdijk hat diesen Trend zur Meinungskonsonanz in seinem Aufsatz "Letzte Ausfahrt Empörung" auf den Punkt gebracht hat.
Auf breiter Front sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins Mobbing gegen die Träger 'unerwünschter Meinungen', dasselbe Unbehagen an der Wortergreifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit.
Sloterdijk beschreibt, wie eifrig sich weite Teile der "manchmal seriösen Presse" den Wunsch nach einer handzahmen berechenbaren Öffentlichkeit zu eigen gemacht haben. Das geht schnell und kostet nichts.
Der Philosoph kennt das beschriebene Mobbing inzwischen auch aus eigener Anschauung. Erst im Juni hat der Autor und Kolumnist Georg Diez versucht, Sloterdijk mit Schmähbegriffen wie "Freiheitsfeind" und "rechtskonservativer Dimpfl" zu brandmarken. Dass von der grellen Munition in diesem Fall nichts kleben blieb, liegt vermutlich daran, dass Diez schon zu oft und zu schrill versucht hat, Personen des öffentlichen Lebens ins gesellschaftliche Aus zu schreiben.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Die Brüllfeder mag kurzfristig klemmen. Auf lange Sicht funktioniert sie. Und sie zerstört genau das, was ihre Freunde zu schützen vorgeben: den Rest vom Traum einer tatsächlich toleranten Gesellschaft.