Die große Fernseh-Gala, die zum 20. Jubiläum des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) geplant war, hatte Udo Reiter schon vor Wochen abgesagt. "Das passt jetzt nicht in die Landschaft", entschied der Intendant kurzerhand, als sich die Nachrichten über den schweren Betrugsfall beim Kindersender Kika überschlugen. Mehr als acht Millionen Euro sind in dem in Erfurt beheimateten Kika, den der MDR federführend für die ARD betreibt, veruntreut worden. Wegen des Skandals ließ Reiter im Frühjahr zwei Mitarbeitern kündigen, leitende Fernsehgewaltige wurden ermahnt oder abgemahnt. Und nun hat der Intendant selbst seinen Abschied erklärt: Er will von der "Ausstiegsklausel" in seinem Vertrag Gebrauch machen und die Leitung des MDR aufgeben, sobald ein Nachfolger gefunden ist, teilte Reiter den zuständigen Gremien mit.
Dass sein plötzlicher Rückzug etwas mit dem Kika-Skandal zu tun haben könnte, weist er allerdings weit von sich: Eher im Gegenteil, sagt Reiter, "ohne diese Sache wäre ich schon früher gegangen". Doch er habe abwarten wollen, bis der Skandal "im Großen und Ganzen bereinigt ist". Als Dienstältester unter den Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender will der heute 67-Jährige aber schon seit einiger Zeit über Rückzug nachgedacht haben: "Die alten Weggefährten sind weg, da muss ich nicht als letzter ausgestopfter Dinosaurier in der ARD verbleiben", sagt Reiter. Auch lebe er seit 45 Jahren mit einem Rollstuhl, an den er wegen eines Unfalls gefesselt ist - "das hat gesundheitliche Spuren hinterlassen". Regulär wäre Reiter noch bis 2015 im Amt, nun will er zum Jahresende aufhören.
Etwas wehmütig wirkt der Intendant aber schon in seinem weitläufigen Amtszimmer, das einst der Festsaal der Leipziger Fleischbörse war. Ein prachtvoller Kronleuchter hängt unter der stuckverzierten Decke, in den Teppich ist ein grauweißes Muster gewebt, das den Boden wie marmoriert wirken lässt; auf einem Sideboard hinter dem Schreibtisch sieht man eine kleine Figur zwischen Aktenbergen hervorschauen - es ist ein goldener Reiter.
Bald zwei Stunden hat Udo Reiter schon vom MDR erzählt, von jenen wilden Aufbaujahren, als es nicht mal Telefone gab und die Mitarbeiter auf Luftmatratzen im Büro schliefen; von den Erfolgen als Quotenkönig der Dritten Programme und von den kleinen und größeren Skandalen. "Wenn der MDR eine Frau wäre", sagt Reiter plötzlich und beugt sich in seinem Rollstuhl nach vorn - "es wäre die Liebe meines Lebens gewesen."
In guten wie in schlechten Zeiten also: Die gemeinsame Story begann vor ziemlich genau 20 Jahren. Einstmals ein "geachtetes Mitglied der Münchner Bussi-Gesellschaft", wie sich Reiter selbst charakterisierte, hatte er im Frühsommer 1991 einen Anruf des damaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf bekommen: Ob er nicht eine TV- und Hörfunkanstalt in Mitteldeutschland aufbauen wolle. Reiter, damals Hörfunk-Direktor des Bayerischen Rundfunks, zögerte keinen Augenblick: "Ich hab' so etwas Söldnerisches in mir", erklärte er später sein spontanes Engagement. Als er im Juli 1991 seinen Arbeitsvertrag unterschrieb, war er der einzige Mitarbeiter jener Sendeanstalt, die am 30. Mai 1991 per Staatsvertrag zwischen den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ins Leben gerufen wurde. Zunächst verpflichtete Reiter ein paar ihm bekannte Fernsehleute aus Westdeutschland, doch ihm war schnell klar, "dass wir hier nicht die Besatzer geben durften".
Anfangs gab es nicht mal ordentliche Räumlichkeiten. Funkhäuser sollten gebaut werden, doch zur Verfügung standen insgesamt nur rund 560 Millionen Mark. Reiter legte das Geld an der Börse an und ließ die Gebäude auf Leasing-Basis errichten. Noch heute ist der Intendant stolz auf die Spekulationen, die dem MDR rund 580 Millionen Mark einbrachten. Als bei Anlagegeschäften mit Argentinien und Ecuador dann allerdings rund 3,6 Millionen Euro verloren gingen, wurde dies nicht nur vom Rechnungshof scharf kritisiert.
Immer wieder Ärger gab es auch mit ehemaligen Stasi-Zuträgern im MDR. Viele Mitarbeiter waren vom DDR-Fernsehen übernommen worden, ihre Vergangenheit wurde zuweilen wohl nur lückenhaft durchleuchtet. Reiter sagt heute: "Das Problem habe ich anfangs unterschätzt." Indes hatte er für das Programm, das die Ostdeutschen mochten, ein Gespür. Zwar wurden Nachrichtensendungen und Politikprogramme gründlich umgekrempelt, bei der Unterhaltung aber lehnten sich die MDR-Macher an bewährte DDR-Programme wie Ein Kessel Buntes an. So entstanden Shows, die vor Westpublikum vermutlich gähnende Langeweile erzeugt hätten: mit viel Herz, Schmerz und alten Ost-Stars; dazu kamen Ratgeber-Sendungen - eine Art Super Illu in Fernsehformat.
Damit führt der MDR seit 14 Jahren nach Marktanteilen die dritten Programme an. "Bei aller Bescheidenheit", sagt Reiter, "ich denke, wir können uns sehen lassen". Umso schmerzlicher traf ihn der Kika-Skandal. Reiter hatte das Kinderprogramm Mitte der 90er Jahre maßgeblich mit aufgebaut und dafür gekämpft, dass es in Erfurt angesiedelt wurde.
Wer Udo Reiter nachfolgen soll, ist völlig unklar. Er selbst will sich nicht in die Personaldebatte einmischen. Allerdings hätte er "einen Ratschlag", sagt er - verrät aber nicht, welchen. Er will immer noch gefragt werden.