Magazin "Dummy" als Sammelband:Nachschlagewerk der Perversionen

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Das Gesellschaftsmagazin "Dummy" ist etwas für Liebhaber, die auch Zumutungen erwarten. Für die erscheint jetzt ein Sammelband mit "dem Besten und Schlimmsten" aus den vergangenen 30 Ausgaben. Es geht um Zuhälter, Selbstmörder und Berliner Parallelwelten. Und mancher Text ist eine posthume Wiederentdeckung.

Katharina Riehl

Als vor acht Jahren, 2003, die erste Ausgabe des "unabhängigen Gesellschaftsmagazins" Dummy auf den Markt kam, versuchte die taz ihren Lesern das Heft so zu erklären: In Dummy könne man Geschichten finden, wie sie in Vanity Fair stünden - gäbe es ein solches Format in Deutschland.

Ausstellung im "Berghain". Der Berliner Club heißt es in Dummy, sei für Berlin so etwas wie der Vatikan für Rom und die Pyramiden für Ägypten. Einem beträchtlichen Teil Dummy-Leser wird diese Einschätzung sehr gefallen. (Foto: dpa)

Ein im Nachhinein sehr komischer Satz, denn 2007 brachte der Verlag Condé Nast eine deutsche Ausgabe der tollen amerikanischen Vanity Fair heraus und nahm sie zwei Jahre später wieder vom Markt. Geschichten wie "in Dummy" hatte es darin eher selten gegeben. 31 monothematische Dummys sind bislang erschienen. Nun gibt es den ersten Sammelband, das heißt, einen Sampler mit von der Redaktion ausgewählten, also den besten Texten und Fotostrecken.

Rund 45 000 Menschen kaufen durchschnittlich eine Dummy-Nummer, das jedenfalls behauptet der Dummy-Verlag. Wer und wie die Käufer ungefähr so sind, kann man sich schon vorstellen, wenn man im Großen Dummy-Buch blättert. Der Paperback-Band - erschienen bei Kein & Aber (Zürich), gedruckt auf ähnlich mattem Papier wie das Heft - müsste mit seinen Themen (Liebe, Drogen, Gewalt und sehr viel Sex) und der mehrfach preisgekrönten Optik das richtige Journal für die digitalen Kreativen sein, sofern die noch Geld für Gedrucktes ausgeben.

Der deutsche Zeitschriftenmarkt ist extrem ausdifferenziert. Es gibt Magazine für shoppende Mütter, für kochende Manager, für Fleischverrückte. Ein klassisches Gesellschaftsperiodikum existiert seit dem Aus der Vanity Fair und der im Grunde besser geschriebenen Park Avenue (Gruner + Jahr) gegenwärtig nicht. Auch Dummy schließt diese Lücke natürlich nicht. Dummy ist ein Liebhaberstück, kein general interest, schon gar kein "popular interest".

Dummy spricht eine sehr konkrete Leserschaft an: urban und medienerfahren, nennt Herausgeber Oliver Gehrs, 43, seine Leser, "die von einem Magazin eine politische Haltung, aber auch Zumutungen und Überraschungen erwarten und nicht nur den allgemeinen Themenkanon".

Selbstgefällige Expeditionsleiter

Gehrs war früher beim Spiegel, auch der SZ oder der Berliner Zeitung. Er sagt: "Dieses Milieu ist zweifellos größer geworden." Dass nur ein Viertel der Dummy-Käufer in Berlin wohnen soll, ist kaum zu glauben. Das Magazin ist schon sehr aus dem Berliner Bauch heraus gemacht.

Das Dummy-Buch ist einerseits wie eine Entdeckungsreise, andererseits wirken die Expeditionsleiter ziemlich selbstgefällig. Jedes Kapitel hat ein Vorwort, einmal wird betont, dass kein gesellschaftlicher Abgrund ausgespart bleibe. Und dann blickt man in den Abgrund eines Zuhälterporträts, immerhin: gut geschrieben.

Überhaupt sind viele Geschichten gut geschrieben. Sie handeln von Behinderten, verhinderten Selbstmördern, Armut. In manchen Teilen ist die Kompilation auch einfach ein Nachschlagewerk der Perversionen. Aber dann blättert man zu einer wunderbaren Reportage des in diesem Jahr verstorbenen Journalisten Marc Fischer, der sich einen Abend lang mit drei von Easy Jet nach Berlin gebrachten Spaniern vor das Berghain stellte. Das Berghain, heißt es darin, sei für Berlin so etwas wie der Vatikan für Rom und die Pyramiden für Ägypten. Mindestens dem behaupteten Berliner Viertel der Dummy-Leser wird diese Einschätzung sehr gefallen.

© SZ vom 08.09.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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