Journalismus im Internet-Zeitalter:Im endlosen Strom der Ereignisse

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Neue Vielfalt: Die gedruckte Samstagsausgabe der SZ und die Facebook-Seite der Süddeutschen. (Foto: Jakob Berr)
  • Die Zeitung als zeitlich abgeschlossenes Produkt wird es nie wieder geben. Stattdessen bilden elektronische Medien im Internet den Strom aus Ereignissen als das ab, was er ist: endlos.
  • Die klassische Redaktionsarbeit findet heute wenigstens zum Teil im Netz statt.
  • Die Kriterien für Qualitätsjournalismus sind davon allerdings unberührt.

Von Johannes Boie

Es gibt ein Bild von Redakteuren dieser Zeitung, das fast so alt ist wie die Süddeutsche Zeitung selbst. Es zeigt eine Redaktionskonferenz in den ersten Wochen der Gründung 1945. Da sitzen die Herren in einem Kellerraum, allesamt ordentlich gescheitelt im Anzug mit Pullunder und Krawatte.

Bemerkenswert ist auch die Anzahl der Maschinen. Ein, zwei altertümliche Telefone und eine Schreibmaschine, auf der ein Mitarbeiter eifrig tippen muss.

Was wäre heute seine Aufgabe? Vielleicht würde er besonders gelungene Sätze aus den besten Texten auf Twitter verbreiten, vielleicht würde er eine Auswahl von Texten aus der Zeitung oder von der Webseite SZ.de auf Facebook verlinken. Oder er würde sich überlegen, wie man sie für die sozialen Medien aufbereiten kann.

Bis heute ist das in der Süddeutschen Zeitung fast immer ein Text, aber hin und wieder auch eine Bildergalerie, eine interaktive Grafik oder, immer öfter, ein Video.

Vielleicht würde der Kollege aber auch einen Text zusammenfassen, damit er im E-Mail-Newsletter, der zwei Mal täglich die Redaktion verlässt, akkurat zusammengefasst wäre. Oder er würde die Whatsapp-Nachrichten schreiben, welche die Lokalredaktion produziert.

Das Format setzte dem Inhalt klare Grenzen. Das ist vorbei

Die Zeitung war ein zeitlich abgeschlossenes Produkt, dessen Format dem Inhalt klare Grenzen setzte. Das ist vorbei und wird es nie wieder geben. Zum ersten Mal bilden die elektronischen Medien den Strom aus Ereignissen in der Welt als das ab, was er ist: endlos.

Bei besonders wichtigen Anlässen berichtet die Redaktion in einem Live-Blog, einem ständig aktualisierten Artikel auf der Webseite.

Die Leser haben nun die Wahl, wie und wo sie ihre Nachrichten bekommen. Auf dem Rechner bei der Arbeit, dem Tablet auf dem Sofa, gedruckt als Zeitung am Frühstückstisch oder als Kurznachricht auf dem Handy in der S-Bahn.

Neu dabei ist in Deutschland der Dienst Blendle, der einzelne Texte aus verschiedenen Zeitungen, auch aus der Süddeutschen, anbietet. So wird das gebündelte Produkt Zeitung im Netz zerrissen. Noch vor fünf Jahren konnten sich das manche klassischen Zeitungsjournalisten nicht einmal vorstellen.

Auch die klassische Redaktionsarbeit findet heute wenigstens zum Teil im Netz statt, manchmal auch nur im Netz: von der Recherche über die Zusammenarbeit mit Kollegen bis hin zur Veröffentlichung. Journalisten, die für eine lange Reportage um die Welt fliegen, werfen vorher einen Blick ins Netz, um zu wissen, was es über ihr Thema dort zu lesen gibt.

Und spätestens seit in der Süddeutschen Zeitung auch eine digitale Ausgabe entsteht, etwa fürs iPad, arbeiten alle Mitarbeiter zugleich für die gedruckte Ausgabe und für ein digitales Produkt, man nennt das integrierte Arbeit.

Nie zuvor konnte ein einzelner Journalist so viele Menschen erreichen wie heute. Über die sozialen Netzwerke bekommt er oft innerhalb von Sekunden nach der Veröffentlichung eines Textes erste Rückmeldung.

Manche Leser wissen mehr als der Redakteur

Da ist viel Blödsinn dabei, und so ist das Moderieren von Nutzer- und Leserkommentaren als eigener Job erfunden worden. Oft sind es aber auch kluge Gedanken, nicht selten wissen bestimmte Leser mehr als der Redakteur. Kluge Journalisten sind dankbar für dieses Wissen.

Es brechen also große und großartige Zeiten für Journalisten an und damit auch für Verlage - eigentlich. Die Unternehmen hinter den Redaktionen tun sich jedoch bislang schwer damit, im Netz genügend Geld zu erwirtschaften.

Viele Nutzer sind es gewohnt, dass alles im Internet gratis ist. Die Werber schaffen es nicht, im Netz interessant zu sein. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern sich Redaktionen und Verlage amerikanischen Internetkonzernen ausliefern, wenn sie über deren Plattformen viele Menschen erreichen.

Facebook ist längst für sämtliche deutschen Medien einer der wichtigsten Wege zum Nutzer und Leser - aber auf Facebook hat der kalifornische Konzern selbst das Sagen. Noch erkennen die Amerikaner ihre demokratische Verantwortung als Teil des öffentlichen Diskurses nicht; oft bleiben Hassreden auf der Plattform stehen, journalistische Beiträge verschwinden dagegen hin und wieder, nicht immer mit klarer Begründung.

Wer wissen will, wie es in Deutschland weitergehen wird, muss dennoch über den Atlantik blicken. Dort arbeiten Hunderte Programmierer an Algorithmen, die voraussagen sollen, welche Artikel besonderen Anklang finden.

Junge, aber sehr erfolgreiche journalistische Start-Ups wie Buzzfeed publizieren fast nur noch auf Datengrundlage. Für den Journalismus kann das fatal sein. Nämlich dann, wenn das Interesse der Masse bestimmt, was berichtenswert ist.

Es kann aber auch vieles verbessern, nämlich dann, wenn die Technik das Bauchgefühl des Redakteurs durch eine faktenbasierte Entscheidung ersetzt.

Womöglich ist das Zeitalter der Experimente angebrochen

Doch stehen die Veränderungen erst am Anfang. Wenn die gedruckte Zeitung eine Kutsche wäre, dann steht die Medienwelt jetzt vielleicht kurz hinter der ersten Autofahrt von Bertha Benz. Fords T-Modell ist noch lange nicht in Sicht. Gut möglich, dass mit der Digitalisierung ein ganzes Zeitalter voller Experimente angebrochen ist.

Nur eines ist klar: Dieselben Grundlagen, die in den vergangenen 70 Jahren gegolten haben, gelten weiterhin. Gründliche Recherche, Quellenschutz, eine klare, transparente Haltung und immer der Versuch, den bestmöglichen Journalismus zu machen. Egal, ob mit einer Schreibmaschine oder dem iPhone.

© SZ vom 06.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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