Hörspiel "Die Scham - La honte":In der Schweigespirale

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Meisterin des Minimalismus: Annie Ernaux 2019 auf Mallorca. (Foto: CATI CLADERA/imago images/Agencia EFE)

Der Hype um Annie Ernaux hält an: DLF Kultur inszeniert ihren Roman "Die Scham" als Hörspiel.

Von Stefan Fischer

Nun also auch noch dieser Roman: Die Scham, im französischen Original La honte. Der deutsche Literaturbetrieb und mit ihm das deutsche Kulturradio haben sich vor einigen Jahren vernarrt in die Schriftstellerin Annie Ernaux - eine späte Liebe, Ernaux ist im vergangenen September 80 Jahre alt geworden.

Die Faszination ist verständlich. Denn in ihrer nüchternen Prosa destilliert Annie Ernaux aus der eigenen Biografie ein großes Gesellschaftspanorama - im Kleinen zeigt sich das Große. Der gesellschaftliche Alltag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in ihrem Werk in einer erstaunlichen Genauigkeit und auch Schärfe. Erst einmal sind das natürlich französische Geschichten, aber das ist für sich genommen schon interessant, und vieles lässt sich auf Deutschland übertragen: Die patriarchalen Strukturen, die Enge einer religiösen Erziehung, das Streben nach sozialem Aufstieg und weiblicher Selbstbestimmung hat es von den Fünfzigern bis in die Neunziger ganz ähnlich hier auch gegeben.

Schweigen in der Schule, in der Kirchengemeinde, in allen Lebensbereichen

In Die Scham erzählt Annie Ernaux eine Geschichte aus dem Jahr 1952, sie war zwölf Jahre alt und musste miterleben, wie ihr Vater in einem Anfall von irrsinnigem Zorn die Mutter töten wollte. Um diesen Vorfall kreist die Geschichte, und es geht der Autorin darum zu ergründen, wie mit diesem Vorfall umgegangen worden ist in der Familie, die sie als eine typische vorstellt. Ähnliche Mechanismen des schambehafteten Schweigens finden sich in der Schule, in der Kirchengemeinde, schlicht in allen Lebensbereichen.

Nachdem der HR Die Jahre und Der Platz als Hörspiele inszeniert hat, der SWR wiederum Erinnerung eines Mädchens, hat nun auch DLF Kultur "sein" Ernaux-Stück produziert: Stefanie Hoster, lange Jahre Hörspieldramaturgin des Senders, hat Die Scham inszeniert, mit weniger bekannten Sprechern, also frischen Stimmen, sieht man von Clarisse Cossais ab. Es ist eine sehr elegante, präzise Adaption, die ganz subtil ihre Kraft entfaltet.

In Summe hat sich das Kulturradio mit diesen bislang vier Ernaux-Hörspielen einen Schatz geschaffen, der viel stärker nachwirken dürfte als die Elena-Ferrante-Seichtigkeiten, die auf ihre Weise ein ganz ähnliches Thema haben, aber nicht annähernd diese literarische und diskursive Wucht. Insofern ist es auch richtig, Annie Ernaux' komplettes Hauptwerk zu vertonen.

Die Scham - La honte, DLF Kultur, Sonntag, 18.30 Uhr.

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