Gegenüber des Cafés steht eine ehemalige Kirche, die jetzt eine Moschee ist. Das Café wiederum steht in dem Ruf, seinen Kunden neben Getränken auch Frauen anzubieten. Ein Haus weiter, im islamischen Leichenwaschhaus, kann man jetzt auch Hemden kaufen. Eine Maßnahme, die wohl dem Umsatz geschuldet ist.
Es lohnt sich ein zweiter Blick an dieser Straßenkreuzung in Berlin-Neukölln. Denn das allermeiste ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint. An der Kreuzung steht eine zierliche, junge Frau und wartet darauf, dass die Ampel grün wird.
Güner Balci, 36, Journalistin, ist eine Spezialistin, wenn es um genaues Hinschauen, um die zweiten und dritten Blicke geht. Ihren Zuschauer und Lesern jedoch, die im Fernsehen ihre Reportagen sehen oder in Tageszeitungen lesen, will sie die Notwendigkeit des zweiten Blicks ersparen. Balci hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Dinge von vorneherein so darzustellen, wie sie ihrer Meinung nach sind. Damit man sie gleich auf den ersten Blick erkennt.
Am vergangenen Freitag zeigte das ZDF im Kulturmagazin Aspekte eine Reportage von Balci. Darin geht sie mit Thilo Sarrazin (SPD) durch Kreuzberg. Der umstrittene Ex-Senator verlässt vor laufenden Kameras ein türkisches Restaurant, nachdem zwei Kreuzberger mit andauernden Pöbeleien gegen Sarrazin für einen kleinen Tumult sorgten. Vor der alevitischen Gemeinde wird der Gast von einer skandierenden Menge vertrieben. Sowohl in dem Restaurant als auch bei der Gemeinde seien Sarrazin und das Fernsehteam angemeldet und eigentlich willkommen gewesen, erzählt Balci. Im Fall des türkischen Restaurants sei vor allem der Wirt der Angeschmierte: Er gelte nach vielen Medienberichten nun als Feind der Meinungsfreiheit. Die alevitische Gemeinde dagegen sei wohl auch unter dem Einfluss von Linksaußen-Aktivisten so stark gegen Sarrazin aufgetreten, vermutet Balci.
Den Kritiker bei den Kritisierten, das wollte Balci eigentlich zeigen. Am Ende wurde die Reportage viel mehr, nämlich ein Lehrstück über die große Aufregung, die auch ein Jahr nach Sarrazins Buchveröffentlichung noch in der öffentlichen Debatte herrscht. Denn die eigentliche Debatte brach schon vor dem Sendetermin los, befeuert durch Artikel von Balci und Sarrazin in der Welt. Nach Lektüre konnte man den Eindruck haben, der Tumult sei ein bisschen größer gewesen, als die beiden Querulanten, die dann in der Reportage zu sehen waren.
Auf die Artikel reagierte zum Beispiel Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Er sagte, ohne die Sendung gesehen zu haben, Balci habe einen "vorhersehbaren Eklat" inszeniert. Daraufhin gab der Autor Henryk M. Broder einen Preis des Kulturrates zurück. Zu Wort meldeten sich außerdem noch Maria Böhmer (CDU), die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Hans-Christian Ströbele (Grüne), der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky (SPD), Guntram Schneider (SPD), Integrationsminister in Nordrhein-Westfalen, und viele, viele andere.
Ein bisschen war es wie bei Sarrazins Buch, das auch oft be- und verurteilt wurde, von Menschen, die es nicht gelesen hatten. Weshalb dann die notwendige, profunde Kritik, die an dem Werk zu üben war, im allgemeinen Geschrei unterging. Balci selbst findet Sarrazins Thesen, wonach Intelligenz zu 80 Prozent vererbbar sei, "äußerst schwierig" und "dem deutschen Bildungsideal entgegengesetzt." Grundsätzlich seien ihr viele seiner Rechnungen zu simpel.
Wer Balcis ZDF-Reportage anschaute, erkannte, dass es ausgerechnet in Kreuzberg, dem Stadtteil, der vielen noch immer als Vorbild an Toleranz gilt, Menschen gibt, die nicht viel auf die Redefreiheit Andersdenkender geben. Manche von ihnen sind Migranten.
"Ich hab keine Lust, denen einen Minderheiten-Bonus zu geben", sagt Balci bei einem Spaziergang durch Kreuzberg. Diskriminierend verhalte sich, wer Migranten nicht kritisiere, weil sie Migranten seien. "Mein Vater zum Beispiel hat sich nie als Opfer gefühlt", sagt sie. "Aber vor allem in der Welt von Linken wie Hans-Christian Ströbele kann und darf es das nicht geben - ein Türke, der kein Opfer ist."
Umgekehrt ist es für Balci eine journalistische Pflicht, mit der Kamera auf Minderheiten zuhalten. In ihrem Film "Kampf im Klassenzimmer" hat sie sich mit prügelnden Araber- und Türkenjungs beschäftigt. So bezieht Balci in der geschichtlich bedingt hoch sensiblen Debatte um gewalttätige Menschen mit Migrationshintergrund, Probleme durch den Islam und um mangelhafte Integration klar Position. Man würde vermuten, Balci agiere mit einem verbalen Florett. Aber ihre Filme haben eher die Wirkung von medialen Kettensägen - trotz des betont ruhigen Kommentars aus dem Off.
Das ist von Balci so gewollt. Die Journalistin sagt, Rücksicht auf Migranten zu nehmen, wäre nicht nur diskriminierend, sondern würde andererseits auch bedeuten, die Zuschauer für blöd zu verkaufen. "Die Leute sehen doch, was los ist", sagt sie. "Warum sollte ich es dann nicht im Fernsehen zeigen? Diese Haltung muss man sich erst einmal leisten können. Balci kann das, denn erstens gehört sie selber einer Minderheit an. Ihre Eltern sind Aleviten aus Tunceli, eine der kleinsten türkischen Provinzen. Die Angehörigen der Volksgruppe Saza sind Gastarbeiter der ersten Generation.
Zweitens hält sich Balci strikt an ein argumentatives Gerüst, quasi eine Gebrauchsanleitung für den argumentativen Nahkampf. "Am Anfang steht das Menschenrecht", sagt sie. "Dann die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau." Die Religionsfreiheit komme dagegen "irgendwo ganz unten." Sie selbst sei Feministin.
Und drittens weiß Balci sehr genau, worüber sie berichtet. Bevor sie Journalistin wurde, hat sie bei Hilfsprojekten für Mädchen in Neukölln gearbeitet. Sie hat viele junge Freundinnen gekannt, die von ihren kleinen Brüdern, entfernten Cousins oder den eigenen Vätern aus religiösen Gründen drangsaliert wurden.
In einem Neuköllner Hinterhof beugt sie sich über den Lavendel einer Grünfläche, ein Geruch aus ihrer Jugend. Zwischen Hermann-Straße und Karl-Marx-Straße ist sie aufgewachsen, sie kennt die Menschen hier und ihre Geschichten. Zum Beispiel die vom Jungen mit den heroinabhängigen Eltern. Oder jene von Dennis J., der kriminell wurde und 2009 von Polizisten im brandenburgischen Schönfließ erschossen wurde. Während sie erzählend durch die Straßen Neuköllns geht, kommt ein kleiner, grauer Mann vorbei. Dessen Sohn, erzählt die Journalistin, brach vor Jahren auf dem Sportplatz zusammen und war sofort tot. Der Mann nickt ihr zu, sie grüßt auf Türkisch zurück.
Die Journalistin weiß, was sie den Menschen hier mit ihrer Arbeit zumutet. Und auch, was sie sich zumutet. Die einen betrachten sie als Nestbeschmutzerin: eine Türkin, die Türken kritisiert. Viele davon vermuten fälschlicherweise, sie sei Kurdin, eine klassische Verräterin eben. Aktuell wird ihre Arbeit auf der Webseite turkishpress.de in einen Zusammenhang mit dem Massenmord in Norwegen gestellt. Balci sagt, von den Richtigen gehasst zu werden, sei eine Bestätigung für ihre Arbeit, aber nicht die einzige.
Schwierig ist es für sie, von den Falschen geliebt zu werden. NPD-Mitglieder hätten ihre Schulhof-Reportage verlinkt, erzählt Balci. Schließlich ging es um kriminelle Ausländer. Doch die Journalistin lässt sich nicht beirren. "Meine Aufgabe ist es zu zeigen, was schief läuft," Dann verschwindet sie im bunten Getümmel der Karl-Marx-Straße. In ihre Heimat, die ihr Thema ist.