Du hältst die Bernauer Straße für wichtiger als das Borchardt. Dein Held bleibt immer allein: "Wie gern hätte ich in meinem Leben ein Mädchen kennengelernt, das mir Blumen pflückt." Dein Held kann bis heute nicht unbefangen mit Juden reden, er leidet an der "Nazikrankheit". Du, großer Brief an Deutschland, machst Dich lustig über die Mütter von heute, die wegen Mann-Kind-Haus-Yoga-Ballett erschöpfen und nicht den "Bruchteil eines Bruchteils der Trümmerfrauen" aushalten, wie Du schreibst. Du weißt, für Männer ist Inkontinenz schlimmer als Impotenz.
In Deiner Welt ist das Klacken der Schreibmaschine noch alles. Dies war der Sound des Journalismus, als er Freiheit vor den Flanellmännchen hatte. Es war die Melodie des Rauschs. Deines Rauschs. Ein Mac kann das nicht. Aber Du empfiehlst auch, bei einer kritischen Geschichte lieber den Betroffenen vorher anzurufen: "Du bist in dieser Situation ein Schwein, aber ein halbes." Als Dein Held, liebes Buch, einmal Bunte-Chefredakteur war, hat er inmitten all der "California Girls" eine frei ersonnene Geschichte über die angeblich unglückliche Caroline von Monaco abdrucken lassen und ein gefälschtes Interview mit Tom Cruise zu verantworten gehabt. Vom "Narrengold des Boulevards" schreibt der Mann, der Burdas Narr war. Und der Glück hat, weil Tom Cruise seine Schadenersatzklage gegen den Verlag zurückzieht. Der Burda-Jet verunglückt 1996 mit zwei Top-Managern an Bord. Der Schauspieler aus Hollywood schreibt: "Bin selbst Pilot. Tiefes Mitgefühl für den Verlust Ihrer Manager. Tom Cruise."
Dein großes Idol ist einer wie Peter ("Pepe") Boenisch, der langjährige Lenker von Bild, und Du verkündest: Man darf die heutigen Chefredakteure, die Fortysomethings, die Glücklichen, die mit Nutella aufgewachsen sind, nicht mit Boenisch vergleichen. Der Reporter Deines Deutschlands sucht und sucht, er schreibt und lebt davon, aber er wäre gern mehr als einfach nur Aufschreiber: "Wie ein Unfallarzt fühlt er sich, der nur noch den Tod feststellt, nutzlos."
Dein Reporter heißt Franz Josef Wagner, er dichtet und sitzt danach in der Kneipe. Er war in Vietnam bei der US-Armee, in Manila bei Muhammad Ali gegen Joe Frazier, im "Storkower Eck" im Ost-Berlin der DDR, er schlief in seinen Klamotten, er titelte in der Zeitung Super "Angeberwessi mit Bierflasche erschlagen" und lebt heute in Berlin-Charlottenburg, Mommsenstraße. Ein Bohemien, der mit den Geistern vieler Jahrzehnte in die Bar geht. Er ist ein Reporter, der nie Chefredakteur hätte werden dürfen, weil das nur etwas für Leute ist, die sich den Hintern gerne flach sitzen. Er zitiert Heine und Goethe. Er hat eine Autobiographie wie aus einem Transrapid heraus geschrieben. Flüchtig, intensiv.
Lieber "Brief an Deutschland", Franz Josef Wagner, der ohne Bindestrich, leidet an dem, was er liebt, an sich und an Deutschland. Sonst könnte er nicht schreiben. Man kann seine Gedankenwolken vorlesen und keiner langweilt sich. Das ist doch etwas. Das bleibt. So wie die Tochter, die nachfragt, wann das Buch denn fertig wird. Junge Frauen sind ins Gelingen verliebt.
Wenn es um den stärksten Anfang geht: Vielleicht ist die Sache mit dem Beatnik doch der beste erste Satz, vielleicht kann man Jack Kerouac einführen. Andererseits: Wer fragt schon nach dem ersten Satz, wenn er am Schluss angekommen ist?
Franz Josef Wagner, seit 2001 Kolumnist der Bild-Zeitung hat soeben ein Buch unter dem Titel "Brief an Deutschland" veröffentlicht (Diederichs Verlag 2010). Wagner, 67, war Chefredakteur bei der "Bunten" (1988 - 1991),bei der Super! (1991 - 1992) und bei der B.Z (1998-2000).