Filmkritik:Die Mentalität der Minderwertigkeit

Lesezeit: 2 min

Macht und Geld: Gerhard Schröder und Carsten Maschmeyer. (Foto: WDR/ddp images/Nigel Treblin)

In seiner Doku "Der Hannover-Komplex" geht Lutz Hachmeister der Frage nach, warum diese Stadt immer wieder Politiker hervorbringt, die wichtig werden.

Von Nico Fried

Dieser Film hat viel vor. Er erzählt die Geschichte einer Stadt, er porträtiert eine Reihe mehr oder weniger bedeutender Politiker und er versucht aufzuzeigen, was beides miteinander zu tun haben könnte. Diese Reportage nimmt sich viel Zeit, ihr Autor Lutz Hachmeister hat im Archiv einen enormen Aufwand betrieben und viele Interviews geführt, aber nach 90 Minuten bleibt das zurück, was immer bleibt, wenn es um Hannover geht: eine gewisse Ratlosigkeit.

Nichts bleibt unerwähnt, aber die Vollständigkeit wirkt ermüdend

Hannover - ein bisschen Großstadt, ein bisschen Provinz. Eine Messestadt von Weltrang, aber im eigenen Land meist belächelt. Neulich war Obama da, aber am selben Wochenende wurde der Abstieg von 96 aus der Fußball-Bundesliga besiegelt. Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, Hannover hat stets etwas von beidem.

Warum hat gerade diese Stadt immer wieder Politiker hervorgebracht, die bundespolitisch eine wichtige Rolle spielten? Das ist die Ausgangsfrage der Dokumentation Der Hannover-Komplex. Tatsächlich gibt es wohl keine andere Landeshauptstadt, die so kontinuierlich Sprungbrett für Karrieren war, weniger in Bonn, häufig aber in Berlin. Wirklich erfolgreich freilich waren nur wenige: natürlich Gerhard Schröder und im Rahmen ihrer - aus unterschiedlichen Gründen - begrenzteren Möglichkeiten Frank-Walter Steinmeier und Jürgen Trittin. Andere, wie Ernst Albrecht, schafften den Sprung nicht. Oder sie scheiterten sehr schnell wie Christian Wulff und Philipp Rösler. Bei Ursula von der Leyen und Sigmar Gabriel ist das Ende der Geschichte noch offen. Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, immer beides und nah beieinander - typisch Hannover eben.

Der Titel des Films ist bewusst doppeldeutig. Der Hannover-Komplex benennt einerseits ein Minderwertigkeitsgefühl, andererseits jene Nähe von Politik, Wirtschaft und sonstiger Lokalprominenz, die es auch in anderen Städten gibt, deren niedersächsischem Ableger jedoch gelegentlich besondere Aufmerksamkeit zuteil- wird, weil an ihren Rändern Hells-Angels- Rocker oder Veronica Ferres auftauchen.

Der Ergründung einer gewissen Mentalität der Minderwertigkeit, aber auch ihrer politischen Überwindung widmet Lutz Hachmeister die erste Hälfte dieses Films. Er holt weit aus, erzählt siebzig Jahre einer Stadt plus dazugehöriger Landespolitik. Bahlsen, Volkswagen, der Spielbankenskandal, Gorleben und das Celler Loch - nichts bleibt unerwähnt, aber diese Vollständigkeit wirkt auch ermüdend, weil dem Nicht-Hannoveraner natürlich alles wenigstens in Grundzügen zu erläutern ist. Aufgelockert wird diese Geschichtsstunde nur hie und da von wunderbaren Bildern aus der Kindheit der heutigen Verteidigungsministerin und der Erkenntnis, dass sie ihrem Vater Ernst Albrecht nicht nur im Gesicht ähnelt, sondern auch in der Fähigkeit zur politischen Inszenierung.

Die zweite Hälfte nähert sich dann der möglichen Kungelei von Geld und Macht, wobei enttäuscht wird, wer von dieser Reportage Enthüllendes erwarten sollte. Im Gegenteil bleibt der Film gerade hier besonders oberflächlich, deutet nur an, geht selten in die Tiefe. Natürlich taucht die Anzeige des Finanzunternehmers Carsten Maschmeyer für Gerhard Schröder 1998 auf ("Der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein"), aber wie es eigentlich weiter-ging, bleibt unerzählt, nicht einmal die Frage wird gestellt, ob es Zufall war, dass die spätere Rentenpolitik des Kanzlers dem Unternehmer besonders zupasskam.

Am plausibelsten wird die These dieses Films an Christian Wulff auserzählt, der in seiner aktiven politischen Zeit sowohl den Minderwertigkeits- wie auch den Kungelkomplex verkörperte, politisch aufstieg und schließlich fiel, nicht zuletzt, weil er über Restposten aus seiner Vergangenheit in Hannover stolperte. So findet dieser zu lang und zu überladen geratene Film immerhin ein gelungenes Ende.

Der Hannover-Komplex , ARD, 22.45 Uhr.

© SZ vom 02.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: