Fernsehen:Unsere TV-Momente des Jahres

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Laut und aufsehenerregend oder leise und persönlich: Was aus dem Fernsehjahr 2019 besonders in Erinnerung bleiben wird.

Aus der SZ-Redaktion

Freude, Ärger, Fremdscham und Verwunderung - Fernsehen kann beim Zuschauen die unterschiedlichsten Gefühle auslösen. Manche Momente davon bleiben in der Erinnerung hängen: ein persönlicher Rückblick aus der SZ-Redaktion auf das Jahr 2019.

Ein röhrender Vollidiot

Es ist das Länderspiel Deutschland gegen Argentinien. Der Anschlag von Halle, bei dem ein Antisemit und Frauenfeind zwei Menschen umgebracht hat, ist erst ein paar Stunden her und der Stadionsprecher sagt: "Als Ausdruck unserer Solidarität mit den Toten und Verletzten und des tiefen Mitgefühls für die betroffenen Familien und deren Freunde bitten wir nun um eine stille Minute des Gedenkens." 14 Sekunden bleibt das Gedenken still. Dann gerinnt einem Mann das Areal, das im Gehirn für Solidarität und Mitgefühl zuständig ist, und er fängt an, die Nationalhymne zu singen. Er schafft es bis zum inbrünstigen Luftholen zwischen "deutsche" und "Vaterland", dann springt bei einem anderen Zuschauer das Areal für Solidarität und Mitgefühl ganz gewaltig an und er brüllt - durchaus hart im Ton aber auch versöhnlich in der Sache: "Halt die Fresse!" Er erntet, nein, keinen tosenden, sondern einen sehr respektvollen Applaus. Und wenn man das nun etwas überhöhen will, muss man sagen: Ein röhrender Vollidiot auf ein ganzes Fußballstadion - da steht es um die Demokratie noch ganz gut. Wenn jemand die Fresse aufmacht. Jakob Biazza

Demokratie im Fußballstadion: Gedenkminute D:Argentinien, 2019 (Foto: RTL)

Rührung und Rangewanze

Es ist ein Ritual. Am Freitag vor Weihnachten wird Der kleine Lord geschaut. Jedes Jahr. Und immer wieder wird Rotz und Wasser geheult, wenn der kleine Cedric in die Fänge des Earl of Dorincourt gerät und dieser Misanthrop vom Dienst scheitert beim Vorhaben, seinen Enkel zu einem Aristokraten zu erziehen. Die Geschichte, wie dieser Junge das verknöcherte Regime des Großvaters mit Grundgüte davon schwemmt, ist die perfekte Inspiration für Rührungsheuler, weil das Ehrliche, das Naive und das Kindliche siegen über all die Verbitterung. Bei diesem Märchen werden selbst harte Hunde, die sonst jeden Anfall von Pilcherismus verbellen, weich. Und was machen die ARD-Programmplaner? Sie knallen, die Tränen sind noch sehr feucht, mitten in den Abspann dieses Fernsehhöhepunktes die Fratze von Guido Cantz, der für seine Show wirbt. Gerade noch schönstes filigranes Märchen, auf einmal plumpes Rangewanze. Dafür sollte irgendwer in der Hölle schmoren. Hans Hoff

Weihnachtliches Ritual: Der kleine Lord anschauen. (Foto: ARD Degeto)

Großes Kind

Klein gegen Gr , das ist ja ein wenig wie Wetten Dass...? in früheren Jahren, die ganze Familie vor dem Fernseher, A,B,C-Prominenz auf einem hellen Sofa, dazu Showeinlagen, in denen in dieser Sendung Kinder gegen Erwachsene antreten. Wirklich sehr oft gewinnen die Kinder, sie haben oft leichtere und wendigere Körper (und sind dann fixer gegen einen Weltmeister im Ringen beispielsweise) und sie haben vermutlich einfach weniger Müll im Kopf als Erwachsene (weswegen sie sich mühelos alle Flughafen-Abkürzungen weltweit merken können). Vor ein paar Wochen trat der frühere Skisportler Felix Neureuther gegen die zwölfjährige Angiolina aus einem österreichischen Skiinternat an. Sie sollten möglichst schnell über mehrere große rote Gummibälle hüpfen. Ein bisschen Geplänkel, Neureuther wie immer charmant, lobt nach einem Einspieler Angiolinas "Fahrgefühl". Aber dann. Geht's los. Krasser Killerblick bei ihm. Die Kinder vor dem Fernseher: "Wieso schaut der so komisch?" Das Mädchen hüpft, federleicht, ein kleiner beweglicher Flummi, gute Zeit. Neureuther wuchtet seinen deutlich schwereren Körper, gibt alles, und dann beste Szene, hechtet dermaßen siegesgewillt auf den Zeitmesser-Buzzer, dass er fast hinfällt. Fernsehen in dem Moment, was es ja sehr selten ist: Maximal authentisch. Neureuther in dem Moment: Ein ganz großes sympathisches Kind. Eh klar, wer gewonnen hat. MAREEN LINNARTZ

Ein engagierter Felix Neureuther bei Klein gegen Groß (Foto: NDR/Thorsten Jander)

Endloskommentar

Vom US-Fernsehen hat man sich manches erwartet und einiges befürchtet, das aber nicht. CNN, Abendsendung, präsentiert von Don Lemon, wie oben links im Bild zu lesen ist. Unten eine Bauchbinde, "Don's Take" steht da, Don Lemon kommentiert nämlich gerade. Es geht um Trump, mal wieder. Die Bauchbinde sieht aus wie ein Breaking-News-Streifen, fasst aber die Meinung des Anchormans zusammen. Der redet. Und redet. Und redet. Nach einem sarkastischen Kommentar ("all das in einem Tweet - und kein Wort stimmt") schaut er still in die Kamera, lässt die Sekunden verstreichen, zwei, drei. Er stellt rhetorische Fragen, Tweets werden eingeblendet, ein Ausschnitt aus einer Trump-Rede, dann wieder Don Lemon, der redet und fragt und schaut und entrüstet ist. Der Kommentar dauert, der Kommentar nimmt kein Ende, kaum zu glauben, ist das normal? Man muss ans Wort zum Sonntag denken, ist man je über Vergleichbares im deutschen Fernsehen gestolpert? Ein Tagesthemen-Kommentar dauert eineinhalb, vielleicht zwei Minuten, Don's Take gefühlte vierzig. Der Versuch, die Länge heute auf der CNN-Homepage nachzuvollziehen, ergibt: Es werden wohl maximal zehn Minuten gewesen sein. Aber sag' noch einer, Amerikaner seien oberflächlich. ELISA BRITZELMEIER

Don's Take: ein ungewohnter Fernsehkommentar (Foto: Screenshot CNN)

Tochter-TV

Natürlich ist man ganz und gar subjektiv als Mutter. Wenn der Kinofilm, in dem die eigene elfjährige Tochter die Hauptrolle spielt, als Erstausstrahlung in den Sommerferien, an einem Montag um 23.10 Uhr, mitten in der Nacht vom BR versendet wird, dann wurmt einen das. Doch der Medienmensch in mir sieht darin dennoch etwas Symptomatisches. Der Film Hannas schlafende Hunde ist eine Literaturadaption, in der Hannelore Elsner, die vier Monate vor der Ausstrahlung starb, in einer ihrer letzten großen Kinorollen zu sehen ist. In Shanghai wurde der Film für das beste Drehbuch ausgezeichnet, beim Bayerischen Filmpreis für seine Musik. Er wurde weltweit auf Festivals eingeladen, auch zum Jewish Filmfest nach Jerusalem, er thematisiert den Antisemitismus, der in dieser Gesellschaft immer noch virulent ist. Der BR hat den Film koproduziert und damit erst ermöglicht. Der Sender hat also alles richtig gemacht, könnte man meinen. Doch am Ende, da hat er bewiesen, was man schon lange ahnt: Dieses Fernsehen glaubt nicht mehr an sich selbst und seinen Kulturauftrag. SUSANNE HERMANSKI

Die eigene Tochter (Nike Seitz) mit Hannelore Elsner (Foto: Alpenrepublik)

Pickel

Fast ein Jahr lang hat es daheim kein Fernsehen gegeben, naja, also das, was man so Fernsehen nennt: Der Bildschirm in der Ecke, den man gedankenlos anschalten kann und dann kommt irgendwas. Das analoge Kabel wurde abgeschaltet, man kam erst nicht dazu, sich zu kümmern, dann ein Versuch mit IP-TV, der am zu alten Fernsehapparat scheiterte, der erst sieben Jahre alt ist. Aber hey, das ist doch kein Alter, da wird der Schwabe stur, ist voll und ganz auf der Höhe der Zeit und bei der Anti-Wegwerf-Bewegung. Und hat dann halt kein Fernsehen. Machte eigentlich nichts. Es gibt auf dem Laptop Live-Streams, Mediatheken, Netflix. Aber der Mann zu Hause mault und ein Versuch geht noch. Der Besitzer vom Elektroladen kommt und installiert eine Box, die dem Fernseher digitales Kabel beibringt. Er erkundigt sich nach dem Befinden der Nachbarn, offensichtlich kennt er das ganze Haus, Großstadt eben. Aber jetzt: Anschalten, wie immer. Das ist der Moment! Nein. Man erschrickt. Es ist überhaupt nicht wie immer. Männer schlecht rasiert mit stehen gebliebenen langen Barthaaren. Frauen mit beiger Paste im Gesicht, aber trotzdem lila Augenringen. Der Moderator hat entzündete Pickel mit schwarzem Punkt oben. Alle sehen aus wie Verbrecher. Es ist hell, es ist HD. High definition. Es ist ganz, ganz furchtbar. Fernsehen war früher nicht besser. Aber schöner. CLAUDIA TIESCHKY

Königlich

Das Trauma zeigt sich jede Woche am Kiosk, denn wozu diese ständigen Geschichten über die Maximas, Sylvias, Märtha Louises, Fabiolas und Mette-Marits, diese ganzen Kabalen und Intrigen um Diana und Charles und Camilla, wenn die 1918 aus rätselhaften Gründen verschwundene Monarchie der Hohenzollern nicht immer noch das deutsche Gemüt beschäftigen würde? Umso verdienstvoller, dass Jan Böhmermann dreingefahren ist, nein, nicht wie der leibhaftige Gottseibeiuns, sondern als sachlicher Historiker. Er hat einfach die bisher geheimen Gutachten über die Entschädigungsansprüche der Hohenzollern online gestellt und damit den ganzen kümmerlichen Rest-Nimbus der Hohenzollern zerstört. Dass nebenbei der Historiker Wolfram Pyta als bessere Hofschranze bloßgestellt wurde, war ein schöner Nebeneffekt. Das Neo Magazin Royal vom 14. November agierte königlicher als der preußische #PrinzDumm, der allen Kritikern Klagen angedroht hat. Böhmermann muss das Grußwort auf dem nächsten Historikertag übernehmen. WILLI WINKLER

© SZ vom 31.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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