Das Publikum von Vice lässt sich nicht eindeutig klassifizieren. Es sind Hipster, Nerds. Spötter sagen Berufsjugendliche. Marketingexperten versuchen es mit "urbane Trendsetter". Sie sind zwischen 18 und 35 Jahre alt, gebildet, kennen sich aus im Netz und suchen nach Formen von Information und Unterhaltung abseits des Mainstreams. Für traditionelle Unternehmen sind sie schwer zu erreichen. Für Vice nicht, denn Vice ist ähnlich unberechenbar, skurril und launisch wie sie. Genau deswegen sei das Publikum so loyal, sagen sie bei Vice. Und deswegen wiederum klopfen dort Werbepartner wie Nike und Adidas, Dell und Intel an. Umsatzzahlen veröffentlicht Vice nicht. Der deutsche Ableger feierte gerade Jubiläum. 2005 gründete Ruth mit 25000 Euro Startkapital die Außenstelle. Heute arbeiten dort 32 Angestellte.
Angefangen hat alles 1994 in Kanada, als die Journalisten Suroosh Alvi, Shane Smith und Gavin McInnes die Voice of Montreal übernahmen, ein von der Regierung gefördertes Mini-Magazinprojekt für Arbeitslose. Sie strichen das o aus Voice, krempelten den Inhalt um - Schwerpunkte: Porno, Party, Rock 'n' Roll - und als es wenig überraschend mit der staatlichen Förderung vorbei war, zogen sie um nach New York. "Wir hingen mit den coolsten Leuten rum, mit Models und waren ständig betrunken", so pflegte Smith kürzlich in der Sunday Times das Image des Rockstar-Redakteurs.
Bei aller Coolness und Party ist der Diskurs zuletzt politischer geworden, vor allem dank der Internet-TV-Sparte vbs.tv. Die leitet seit 2007 der Regisseur Spike Jonze. Der Dokumentarfilm Heavy Metal in Baghdad, der Aufstieg und Flucht der irakischen Rockband Agrassicauda nachzeichnet, war bei der Berlinale 2008 eine der Überraschungen. Und Suroosh Alvi und Shane Smith (Mitgründer Gavin McInnes hat Vice mittlerweile verlassen) haben ihre Vorliebe für Reportagen in Krisengebieten entdeckt. Sie reisen mit leichten Digitalkameras dorthin, wo viele TV-Teams nicht hinkommen. Die Berichte schwanken zwischen plumper Albernheit, wenn Alvi auf pakistanischen Waffenmärkten mit Maschinenpistole posiert, und Aufklärung, wenn ein Vice-Team geheime Paraden in Nordkorea filmt. An solchem Material ist CNN interessiert.
Vice sei "jung, mittendrin und authentisch", sagt Andrea Windisch, stellvertretende Redaktionsleiterin bei ZDF Neo. Dort wissen sie, dass sie sich modernisieren müssen. Ob das ZDF und die Media-Anarchisten zusammenpassen, weiß niemand. Von Januar 2011 an wird auf Neo eine Serie mit dem Arbeitstitel Wild Germany zu sehen sein, geplant sind vorerst nur drei Folgen. Es wird "eine Reise an die obszönsten Orte des Landes", sagt Benjamin Ruth. Mehr kann der Herausgeber noch nicht verraten. Er hat jetzt gerade auch andere Sorgen. Sein Chefredakteur Tom Littlewood ist heute noch nicht aufgetaucht. An dessen Platz steht nur eine Flasche Hochprozentiges, fast leer.